Nach der Reform ist vor der Reform

Im deutschen Protestantismus stehen die Zeichen auf weitreichende Veränderungen

Von Rainer Clos (epd)

Frankfurt a.M. (epd). In der Zentrale der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover-Herrenhausen werden Stühle gerückt. Ab 1. Januar greift das so genannte Verbindungsmodell. Die konfessionellen Zusammenschlüsse der Lutheraner und der Unierten, zwei wichtige Wurzeln des Protestantismus, geben im Zuge der vertraglich vereinbarten engeren Kooperation einen Teil ihres Eigenlebens auf und gliedern sich organisatorisch mit eigenen Amtsstellen in das EKD-Kirchenamt ein.

Auch personell ist die Spitze neu formiert. Der bisherige EKD-"Cheftheologe" Hermann Barth ist neuer Präsident des Kirchenamtes. Der neue Auslandsbischof Martin Schindehütte leitet zugleich die Amtsstelle der Union Evangelischer Kirchen. Friedrich Hauschildt, bisher Leiter des Lutherischen Kirchenamtes, übernimmt die Leitung der Amtsstelle der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche.

Doch mit der EKD-Strukturreform, die einen langen Vorlauf hatte und 2009 komplett umgesetzt wird, ist es nicht getan. Dem deutschen Protestantismus stehen auf allen Ebenen grundlegende Veränderungen bevor. Das Stichwort dazu lautet "Kirche der Freiheit". Unter dieser Überschrift finden sich in einem 100-Seiten-Papier, das im Juli präsentiert wurde, eine ungeschminkte Bestandsaufnahme und anhand von zwölf "Leuchtfeuern" Vorschläge für langfristige Reformperspektiven.

Als zukunftsgerichtete Antwort angesichts des Rückgangs der Mitgliederzahlen und sinkender Finanzkraft wirbt das Impulspapier für einen Mentalitätswandel. Um Wachstum gegen den Trend zu erreichen, nennt das Papier ehrgeizige Reformziele bis 2030: So soll die Zahl der Gottesdienstbesucher von derzeit vier Prozent auf zehn Prozent gesteigert werden, mehr evangelische Taufen, Trauungen und Beerdigungen werden erwartet. Die Zahl der örtlichen Kirchengemeinden und Pfarrer soll zurückgehen, die Angebote anderer Gemeindeformen ausgeweitet werden.

"Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität", "Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit", "Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen" und "Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit" sind für den EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber die Leitplanken des Aufbruchs in vier Schlüsselbereichen: in den kirchlichen Kernangeboten, bei allen kirchlichen Mitarbeitenden, beim kirchlichen Handeln in der Welt und bei der Selbstorganisation.

Konstruktiv-kritische Kritik erfuhr das Impulspapier aus den Landeskirchen und im EKD-Kirchenparlament. Umstritten war auch die Anregung, über Qualitätsstandards für Gottesdienste und kirchliche Amtshandlungen wie Taufe, Trauung und Bestattung nachzudenken. Während die Notwendigkeit zu Fusionen unter den 23 Landeskirchen zwar öffentlich stark wahrgenommen wurde, aber eher als "Nebenkriegsschauplatz" gilt, gab es für die Forderung nach qualitativen Maßstäben neben Kritik der Pfarrerschaft auch Zustimmung.

"Eine Volkskirche muss vor allem eine gute Gottesdienstkultur pflegen", sagte der einflussreiche Münchner Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf. Qualitätsmanagement und Konzentration auf das Kerngeschäft sei für die evangelische Kirche angesagt: "Sie ist zuständig für guten Gottesdienst, für gute Beerdigungen, gute Taufen, gute Predigten."

Eine erste Sichtung der mit dem EKD-Papier angestoßenen Reformdebatte wird von einem Zukunftskongress erwartet. In Wittenberg, wo Martin Luther vor bald 500 Jahren die Reformation anstieß, werden Ende Januar rund 300 Kirchenleuten und Experten erörtern, wie es mit dem Reformprozess weitergeht. Angedacht ist eine "Reformdekade", die bis zum Reformationsjubiläum 2017 reicht.

20. Dezember 2006

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