Kirchen: Demokratie braucht politische Tugenden

Gemeinsames Wort von EKD und Bischöfen ermutigt zu langfristig orientierter Politik

Berlin (epd). Angesichts der Probleme von Arbeitslosigkeit und demographischem Wandel haben die beiden großen Kirchen einen Mentalitätswandel bei Bürgern, Politikern, Journalisten und Verbandsvertretern empfohlen. Zukunftsverantwortliches Handeln verlange von Politikern Mut zu einer langfristig orientierten Politik und von den Bürgern die Bereitschaft, damit verbundene Belastungen zu tragen, erklären die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die katholische Deutsche Bischofskonferenz in einem am Donnerstag in Berlin vorgelegten "Gemeinsamen Wort".

Zu lange seien kritische Trends wie Bevölkerungsrückgang und hohe Staatsverschuldung nicht berücksichtigt worden, heißt es in dem Papier. Der Preis für das Ausbleiben fälliger Reformen sei "sehr hoch geworden". In Deutschland scheine die Problemlösung besonders schwer zu fallen. Es fehle an der Einsicht, dass für die Handlungsfähigkeit der Demokratie alle verantwortlich seien. Neben demokratischen Institutionen seien auch ethisches Verhalten, Normen und Werte bei allen am politischen Leben Beteiligten nötig, so die Kirchen.

"Die Demokratie braucht politische Tugenden", schreiben der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber, und der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, im Vorwort. "Dem Gemeinwohl zu dienen, obliegt allen." Das 50-Seiten-Dokument mit dem Titel "Demokratie braucht Tugenden" wurde vorbereitet von einer evangelisch-katholischen Kommission mit Bischof Reinhard Marx (Trier) und dem ehemaligen Justizminister Jürgen Schmude (SPD) an der Spitze. Ihr gehörten auch Politiker und Wissenschaftler an, darunter Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne), Christoph Böhr und Hermann Gröhe (beide CDU), der Theologe Richard Schröder sowie die Politologen Gesine Schwan und Peter Graf Kielmansegg.

Zur Klage über Politikverdrossenheit geben die Kirchen zu bedenken, daran hätten neben den Politikern auch die "Verdrossenen" Anteil: "Es sind die Wähler, die die Spielräume der Parteien definieren." Vertrauen der Wähler in die Gewählten sei das "Rückgrat" der Demokratie. Aber die Wähler dürften das Vertrauen nicht durch Pauschalurteile oder "Aberglauben an die Allmacht der Politik" verweigern. Vielmehr müssten sie bei politischen Entscheidungen ebenso vernünftig handeln wie im persönlichen Leben.

Der Parteienwettbewerb als Merkmal des demokratischen Machtwechsels sei für das Streben nach Gemeinwohl wichtig, unterstreichen die Kirchen. Zugleich mahnen sie, diese Konkurrenz könne die Demokratie gefährden, wenn zu heftiger Streit nicht der Suche nach der besten Problemlösung diene: "Parteien müssen immer wieder bemüht sein, sich mit dem politischen Gegner so auseinanderzusetzen dass das Ergebnis des demokratischen Konflikts nicht die allseitige politische Lähmung ist." Beim Vertreten unbequemer Entscheidungen müssten Politiker gegenüber Wählern und Gruppenegoismen "Mut, Risikobereitschaft und Standfestigkeit" zeigen.

Adressaten des Kirchenpapiers sind zudem die Journalisten sowie die Vertreter von Gruppeninteressen. Zum Spannungsverhältnis von Politik und Medien heißt es, Journalisten dürften sich zwar als Anwälte der Wählerschaft verstehen, aber ein eigenes Mandat hätten sie dafür nicht. "Das Vertrauen der demokratischen Öffentlichkeit in die Medien als Kontrollinstanz der Politik ist ein hohes Gut, das durch Anbiederung und unkritische Nähe zu Politikern Schaden nimmt", warnen die Kirchen. Von den Interessenverbänden fordern sie den "demokratieverträglichen Gebrauch von Verbandsmacht". Auch bei organisierter Interessenvertretung müsse der Vorrang des Gemeinwohls anerkannt werden.

23. November 2006

EKD-Pressemitteilung "Demokratie braucht Tugenden" mit allen Links zu den Statements und zum Text im Wortlaut


Mit Tugenden politische Handlungsfähigkeit gewinnen

Kirchen ermutigen Politiker und Bürger zu mehr Gemeinwohlorientierung

Von Rainer Clos (epd)

Berlin (epd). Die Kirchen haben für ihren Aufruf zu mehr Tugenden in der Politik den Termin klug gewählt. Die Bilanz des ersten Jahres der großen Koalition ist gerade fällig. Und in der Haushaltsdebatte kommt es im Bundestag zum Schlagabtausch zwischen Mehrheit und Opposition über die politischen Konzepte. Die Begleitmusik liefern Meinungsforscher: Auf die Frage, welchen Berufsgruppen sie vertrauen, setzen die Bürger die Politiker auf den letzten Platz. Mit Blick auf die Distanz zwischen Wählern und Gewählten sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): "Wenn wir hart um Entscheidungen ringen, dann erleben das viele Menschen einfach als Streit und schalten ab", klagte sie im "Bild"-Interview."

Der gefühlte Reformstau liefert die Folie für das "Gemeinsame Wort" zur Zukunftsfähigkeit des demokratischen Gemeinwesens, das die evangelische und die katholische Kirche am Donnerstag in Berlin präsentierten. In den Chor enttäuschter Bürger und berufsmäßiger Kritiker, die an Stammtischen und in TV-Runden pauschale "Politiker- und Parteienschelte" betreiben, wollen die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die katholische Deutsche Bischofskonferenz aber nicht einstimmen. Denn bei jedem Politikerverriss müsse sich die Gesellschaft auch selbst in den Blick nehmen. Auch vermeiden sie es, strukturelle Defizite der politischen Institutionen anzuprangern.

Stattdessen fordern sie von allen Beteiligten - Bürgern, Politikern, Journalisten und Verbandsfunktionären - einen Mentalitätswandel und mehr Gemeinwohlorientierung, um zukunftsverantwortliches Handeln in der Demokratie möglich zu machen. "Demokratie braucht politische Tugenden", lautet die Botschaft der Kirchen.

Herausforderungen wie hohe Arbeitslosigkeit und Demographie nennt das Kirchenwort als drängende Beispiele dafür, dass einschneidende Reformen nicht auf die lange Bank geschoben werden dürfen. Radikale Anpassungen der Sozialversicherungssysteme seien zugunsten kurzfristiger Reparaturen unterblieben, rügen die Kirchen: "All zu oft fehlt es an der Standfestigkeit, die nötig ist, um Entscheidungen auch gegen heftige Proteste durchzuhalten." Der Mut, den Wählern auch Unbequemes zuzumuten und etwas zuzutrauen, sei unterentwickelt.

Alle Akteure müssten sich auf politische Tugenden besinnen, empfehlen die Kirchen. Mut, Risikobereitschaft, Standfestigkeit, Glaubwürdigkeit, Unabhängigkeit und Wahrhaftigkeit umfasst die Liste ethischer Standards, die von Wählern, Gewählten, Medienmitarbeitern und Verbandsvertretern aus Sicht der Kirchen gefragt sind. Zur Überwindung der Gegenwartsfixierung der Politik müssten alle beitragen: "Jede Bürgerin, jeder Bürger ist mitverantwortlich für das Wohl des Ganzen." Bürger machten sich selbst zu "Untertanen", wenn sie von einem "Vater Staat" eine Rund-um-Versorgung erwarteten, mahnen die Autoren zu mehr Eigeninitiative.

Ein hohes Gut sehen die Kirchen im Vertrauen: "Vertrauen ist das Kapital, das allein Politiker befähigt, ein freiheitliches Gemeinwesen auch über schwierige Wege zu führen." Gegen den alarmierenden Vertrauensverlust wird empfohlen, mehr auf die Bürger hören. Politiker müssten ihre Konzepte umfassend erklären. Der Wettbewerb der Parteien in der repräsentativen Demokratie sei für das Streben nach Gemeinwohl wichtig.

Grundsätzlich bescheinigen die Kirchen der Demokratie gute Zukunftschancen. Bei allen Mängeln sei die Ausgangslage gut. Mit dem Bekenntnis, dass sich die politische und rechtliche Ordnung der deutschen Demokratie bewährt habe, knüpft das gemeinsame Kirchenwort an die Tradition der evangelischen Demokratie-Denkschrift von 1985 und der katholischen Sozialenzyklika "Centesimus annus" (1991) an.

23. November 2006


Kirchen: Demokratie braucht politische Tugenden (Zusammenfassung)

Gemeinsames Wort von EKD und Deutscher Bischofskonferenz

Berlin (epd). Die beiden großen Kirchen haben angesichts von Arbeitslosigkeit und demographischem Wandel zu einer Wiederentdeckung von Tugenden in der Demokratie aufgerufen. Bürger, Politiker, Journalisten und Lobbyisten sollen Einzelinteressen zugunsten des Gemeinwohls zurückstellen und ihre Verantwortung wahrnehmen, erklärten die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die katholische Deutsche Bischofskonferenz in einem am Donnerstag in Berlin vorgelegten "Gemeinsamen Wort" mit dem Titel "Demokratie braucht Tugenden".

"Es ist zeitgemäß und unentbehrlich, wieder über Tugenden zu sprechen", sagte der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber, bei der Vorstellung des Papiers. Die demokratische Staatsform sei kein Selbstläufer, in dem verfassungsmäßig abgesicherte Mechanismen den Erfolg garantierten. Die Kirchen wollten den Menschen Mut machen, an der Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft mitzuwirken.

Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, wies darauf hin, dass die Kirchen wiederholt Reformen angemahnt hätten. Es scheine aber derzeit die Sorge nicht unbegründet zu sein, dass die gesellschaftlichen Probleme das System der Demokratie insgesamt in Frage stellten. Daher wollten die Kirchen die Situation des demokratischen Gemeinwesens grundsätzlicher beleuchten.

Während in dem Papier die Bürger vor allem dazu aufgerufen werden, sich gesellschaftlich zu engagieren und Verantwortungsbereitschaft zu zeigen, wird von Politikern Mut zu einer langfristig orientierten Politik verlangt. Zu lange seien kritische Trend wie Bevölkerungsrückgang und Staatsverschuldung nicht berücksichtigt worden. Beim Vertreten unbequemer Entscheidungen müssten Politiker gegenüber Wählern und Gruppenegoismen "Mut, Risikobereitschaft und Standfestigkeit" zeigen.

Adressaten des Kirchenpapiers sind auch Journalisten und Verbandsvertreter. Journalisten dürften sich zwar als Anwälte der Wählerschaft verstehen, aber ein eigenes Mandat hätten sie dafür nicht. "Das Vertrauen der demokratischen Öffentlichkeit in die Medien als Kontrollinstanz der Politik ist ein hohes Gut, das durch Anbiederung und unkritische Nähe zu Politikern Schaden nimmt", warnen die Kirchen. Von den Interessenverbänden fordern sie den "demokratieverträglichen Gebrauch von Verbandsmacht". Auch bei organisierter Interessenvertretung müsse der Vorrang des Gemeinwohls anerkannt werden.

Der Trierer Bischof Reinhard Marx, der zu den Autoren des Papiers gehört, sagte, in den vergangenen Jahrzehnten seien "weiche Themen" vernachlässigt worden. Statt dessen dominiere in Politik und Gesellschaft ein ökonomistisches Denken. Es sei unterschätzt worden, dass die Gesellschaft auch an Tugenden, Werten und ethischen Standards hänge.

Das 50-Seiten-Dokument wurde vorbereitet von einer evangelisch-katholischen Kommission mit Bischof Marx und dem ehemaligen Bundesjustizminister Jürgen Schmude (SPD) an der Spitze. Ihr gehörten auch Politiker und Wissenschaftler an, darunter Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne), Christoph Böhr und Hermann Gröhe (beide CDU), der Theologe Richard Schröder sowie die Politologen Gesine Schwan und Peter Graf Kielmansegg.

Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck zeigte sich dankbar für den Hinweis der Kirchen, dass Demokratie nicht selbstverständlich sei, sondern beständig neu gestaltet werden müsse. Mit dem "Gemeinsamen Wort" nähmen die Kirchen ihre politisch-diakonische Verantwortung wahr. In Zeiten des gesellschaftlichen Wandels bedürfe es unverbrüchlicher Werte, so Beck.

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla zufolge kann das Papier einen großen Beitrag dazu leisten, das Bewusstsein für die Grundlagen der Demokratie zu stärken. Die Kirchen hätten deutlich herausgearbeitet, dass für den Erfolg der Demokratie alle verantwortlich seien. "Sehr zu recht wird darauf hingewiesen, dass ein Bürger etwas anderes ist als ein Untertan, der von 'Vater Staat' eine Rundumversorgung verlangt", sagte Pofalla.

Auch der Evangelische Arbeitskreis der CDU/CSU (EAK) begrüßte das Papier. Es rufe ins Bewusstsein, dass alle Bürger ihren Beitrag zu einer förderlichen Gemeinschaftskultur leisten müssten, erklärte der Vorsitzende Thomas Rachel. Wenn Tugenden wie Glaubwürdigkeit, persönliche Integrität und Wahrhaftigkeit nicht mehr erkennbar seien, nehme die Demokratie langfristig schweren Schaden.

23. November 2006

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