EKD-Ratsvorsitzender: Kinderarmut ist gesellschaftlicher Skandal

Berlin (epd). Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, hat Kinderarmut als einen "der großen Skandale dieser Gesellschaft" angeprangert. Auf diese Herausforderung müsse mit Beitragsfreiheit für Kindertagesstätten reagiert werden, empfahl der Berliner Bischof in einem Interview der "Welt am Sonntag". Huber: "Bildungsferne verbindet sich oft mit Armut, gerade diese Kinder müssen Zugang zu Kindertagesstätten haben." Dies setze eine politische Entscheidung voraus, die allen Kindergärten zugute komme.

Im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit mahnte der Repräsentant der evangelischen Kirche die Unternehmensmanager, ihren "Patriotismus nicht nur auf dem Fußballplatz", sondern auch durch Schaffung von Arbeitsplätzen im eigenen Land zu beweisen. Wenn die Wirtschaft dazu nicht bereit sei, werde der Zusammenhalt in der Gesellschaft empfindlich ausgehöhlt: "Es kann nicht angehen, dass wir die Gemeinwohlverantwortung einfach an die Politik abdelegieren und gleichzeitig sagen, alle anderen dürfen ihrem persönlichen Interesse und ihrem privaten Vorteil frönen."

03. Juli 2006


Wortlaut des Interviews in der "Welt am Sonntag" vom 2. Juli

Herr Huber, wie ist das mit der Gerechtigkeit?

Michel Friedman befragt den Ratspräsidenten der Evangelischen Kirche, Bischof Wolfgang Huber, über die Spaltung in der Gesellschaft, Milliardengeschenke für Firmen und sein Engagement für die SPD

von Michel Friedman

Den Garten seines Amtssitzes in Berlin zeigt Bischof Wolfgang Huber seinen Gästen gern. Nicht nur wegen der Skulptur, die König David zeigt. Sondern auch wegen des kreisrunden Neubaus, der extra um einen uralten Baum herumkonstruiert werden musste. Doch die Bewahrung der Schöpfung ist für den 63jährigen Theologen, der 2003 zum Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschlands gewählt wurde, eine Kernaufgabe.

Welt am Sonntag: Bischof Huber, Sie sind auf dem SPD-Sonderparteitag im Mai gemeinsam mit dem SPD-Parteivorsitzenden Kurt Beck Seit' an Seit' in die Tagungshalle einmarschiert. Ist die evangelische Kirche eine Filiale der SPD?

Bischof Wolfgang Huber: Ich bin kurz vorher Seit' an Seit' sozusagen mit Angela Merkel.

Aber nur "sozusagen", Herr Huber, Sie standen nicht Seit' an Seit' und sind das Defilee durchgelaufen.

Huber: Nein? Weil es vorher einen ordentlichen Parteitag gegeben hat, dann hat der Wertekongress begonnen. Dort bin ich mit ebenso großer Freude gewesen wie bei der Grundsatzdebatte der SPD.

Ist das ein kluges Signal?

Huber: Es ist ein ganz selbstverständliches Signal. Niemand hat im Augenblick besondere Sorgen darüber, dass die evangelische Kirche einseitig nur mit einer politischen Partei verbunden wäre. Diese Debatte hat es vor zwanzig Jahren mit gutem Grund gegeben, heute gibt es sie nicht mit gutem Grund. Sondern es gibt eine Verantwortung der evangelischen Kirche für eine Atmosphäre, die auf Frieden und Freiheit, auf Gerechtigkeit und einen verantwortlichen Umgang mit der Natur gerichtet ist. Dafür setzen wir uns ein, dafür führen wir das Gespräch mit den wichtigen politischen Parteien.

Nehmen wir eines Ihrer Stichworte auf, die soziale Gerechtigkeit. Seit die SPD regiert, immerhin seit acht Jahren, hat sich die Zahl der Kinder, die in Familien mit Sozialhilfe aufwachsen, auf über zwei Millionen erhöht. Wie bewerten Sie dieses?

Huber: Als eine der ganz großen Herausforderungen. Ich sage immer, die Tatsache, dass Kinder in Armut leben, ist einer der großen Skandale in dieser Gesellschaft.

Was heißt das konkret?

Huber: Beispielsweise sollten Kindertagesstätten beitragsfrei sein. Bildungsferne verbindet sich oft mit Armut, und gerade diese Kinder müssen Zugang zu Kindertagesstätten haben.

Aber auch in der evangelischen Kirche, lieber Bischof Huber, kostet doch ein Kindergartenplatz Geld!

Huber: Selbstverständlich! Weil das auch nicht ein Problem ist, das durch eine isolierte Maßnahme der evangelischen Kirche gelöst werden kann. Natürlich können wir nicht aus Kirchensteuermitteln den Betrag aufbringen, der jetzt durch die Elternbeiträge aufgebracht wird. Sondern es muss durch eine wirkliche und bewusste politische Entscheidung passieren, die allen Kindertagesstätten zugute kommt.

13,5 Prozent aller Deutschen leben mit einem Einkommen um 900 Euro. Gleichzeitig gibt es immer mehr Reiche. Was passiert in einer Gesellschaft, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft?

Huber: Es gibt Unterschiede und es muss sie geben, weil sie Leistungsanreize sind, weil sie an Freiheit orientiert sind. Sie haben ihre Grenze dort, wo die Privilegierung derjenigen, die an der Spitze sind, nicht mehr einen erkennbaren Vorteil auch für diejenigen bewirkt, denen es in dieser Gesellschaft am schlechtesten geht.

Was kann die Politik dagegen tun?

Huber: Ich glaube, dass die Politik allein dagegen nichts Zureichendes tun kann. Wenn wir ja sagen zu einer Wirtschaftsordnung, die marktwirtschaftlich verfasst ist, dann sind die Rahmensetzungsmöglichkeiten der Politik begrenzt. Es kann sich daran nur etwas ändern, wenn Menschen mit wirtschaftlicher Verantwortung ihren Patriotismus nicht nur auf den Fußball anwenden, sondern auch auf die Frage von Arbeitsplätzen im eigenen Land.

Aber wenn sie es freiwillig nicht tun! Was bedeutet das dann für eine Gesellschaft?

Huber: Dann bedeutet das, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft und die Zustimmungsfähigkeit der gesellschaftlichen Ordnung an einer ganz empfindlichen Stelle unterhöhlt und unterspült werden.

Muss Politik nicht dann spätestens eingreifen?

Huber: Noch einmal: Politik muss eingreifen, aber das Eingreifen von Politik allein genügt nicht.

Der Vize-Chef der IG Metall, Bertold Huber, sagt dazu: "Bei den Arbeitgebern hat sich ein Kapitalismus wieder eingenistet, den Redlichkeit einen Scheißdreck interessiert." Hat er recht?

Huber: Das ist nicht meine Sprache, aber mehr Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit ist genau dasjenige, was ich von allen Beteiligten fordere, die Wirtschaft eingeschlossen. Es kann nicht angehen, dass wir die Gemeinwohlverantwortung einfach an die Politik abdelegieren und gleichzeitig sagen, alle anderen dürfen ihrem persönlichen Interesse und ihrem privaten Vorteil frönen.

Den Menschen geht es schlechter, doch ein sozialdemokratischer Finanzminister entscheidet, dass er den Kapitalisten mal wieder acht Milliarden Steuererleichterung schenkt. Gleichzeitig erhöht er für den kleinen Mann die Mehrwertsteuer. Ist das eine gerechte Politik?

Huber: Die Steuererleichterungen werden immer damit begründet, dass dadurch die Konkurrenzfähigkeit des Standorts gesichert wird und dadurch wieder mehr Arbeitsplätze eintreten. Was in den letzten Jahren nicht passiert ist. Insofern gibt es eine Begründungslücke. Bloß weiß man auch umgekehrt, dass die zusätzliche steuerliche Belastung im eigenen Land international betrachtet wieder ein Wettbewerbsnachteil wäre.

Eine Friseurin arbeitet 40 Stunden, verdient 900 bis 1000 Euro. Dieselbe Friseuse auf Hartz IV kommt auch auf 700 bis 800 Euro. Ist dies ein gerechter Vorgang bei gleichem Lohn?

Huber: Die arbeitende Friseuse ist offenbar im Bereich des Mindestlohns. Zwischen Arbeitslohn und Sozialhilfe muss ein Abstand sein. Der Abstand darf aber nicht so bemessen sein, dass Menschen, die von der Sozialhilfe nun wirklich abhängig sind, damit ihr Leben nicht mehr fristen können.

Sie sprachen gerade von einer Krise der Institutionen, die Vorbild in dieser Republik sein sollen. Nun erleben wir gerade hier in der Weltmeisterschaft, dass eine Gruppe in überhaupt keiner Sinnkrise steckt und in dieser Vorbildfunktion umjubelt wird, das sind die Fußballer. Wie empfinden sie diese Diskrepanz des Umjubelten?

Huber: Ich freue mich darüber, dass die Fußballnationalmannschaft soviel positive Resonanz findet. Da sieht man auch, dass unsere Gesellschaft insgesamt eine größere Begabung dazu hat, Personen und Institutionen runterzureden als zu respektieren. Meine guten Wünsche begleiten die Nationalmannschaft. Ich habe ein neues Endspiel Brasilien - Deutschland schon für möglich und für wünschenswert gehalten, als alle anderen die Mannschaft noch heruntergeredet haben.

Die Public-Viewing-Plätze sind überfüllt. Auf der anderen Seite mussten Kirchen geschlossen werden, nicht wegen Überfüllung, sondern weil sie leer waren!

Huber: Kirchen müssen in wenigen Fällen geschlossen werden. Wir haben im Bereich derjenigen Kirche, für die ich Verantwortung habe, ein Prozent Kirchenschließungen in 25 Jahren gehabt. Wir haben in dieser Zeit sogar in unserem armen Land Berlin-Brandenburg mehr Kirchen neu gebaut als geschlossen.

Aber sie sind leer!

Huber: Sie sind in dünn besiedelten Gegenden leer, wir haben trotzdem mehr Gottesdienstbesuch in unserer Region, die als säkularisiert gilt, als vor zehn Jahren. Wir sind auf einem mühsamen und steinigen Weg, aber dass dieser Weg aufwärts geht, lasse ich mir deswegen nicht ausreden, weil in Zeitungen lieber über Kirchenaustritte als über Kircheneintritte geschrieben wird.

Tatsache ist, dass die Institutionen in einer Krise stecken, auch die klassischen Religionsgemeinschaften. Was kann man dagegen tun?

Huber: Die Krise der so genannten klassischen Religionsgemeinschaften in Deutschland ist eine Krise der 70er bis 90er Jahre, unter dieser Krise leiden wir noch heute.

Was war das für eine Krise?

Huber: Das war eine Krise der erodierenden Kirchenmitgliedschaft, der Säkularisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins, der Entkirchlichung der Verhaltensweisen. Es gab im Westen Deutschlands die Vorstellung, dass man in einer materiell prosperierenden Gesellschaft auf Werte nicht mehr angewiesen ist. Es gab die Vorstellung, dass der Mensch sein Leben so ausbeuten und genießen kann, dass er auf eine Hoffnung über den eigenen Tod hinaus nicht mehr angewiesen ist.

Das gilt nun nicht mehr?

Huber: Diese Mentalität ist gekippt, genau an der Jahrhundert- und Jahrtausendwende. Äußere Faktoren haben viel dazu beigetragen, vieles wird auf den 11. September zurückgeführt. Aber er ist nur ein Bezugspunkt, keineswegs der einzige. Die Mentalitäten, die ich beschrieben habe, sind noch äußerst wirksam, aber gleichzeitig zeigt sich ein Wandel, ein neues Fragen nach Sinn und Heil. Und unsere Aufgabe als Kirche besteht nicht darin, darüber zu jammern, was uns schwer fällt, sondern die Aufgaben anzupacken. Viele Menschen warten darauf, dass die Kirche ein klares Evangelium verkündigt. Und dass sie eine Heilsgewissheit den Menschen nahe bringt, die über das hinausreicht, was ich selber schaffen kann.

Herzlichen Dank, Herr Huber.

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