"Den Mut aufbringen, keinen einzigen verloren zu geben"

Der evangelische Bischof Huber über den Rechtsextremismus in Ostdeutschland und über Wege, ihn zu bekämpfen

Herr Bischof, erst stellte sich der angeblich fremdenfeindliche Angriff auf einen Italiener in Berlin-Prenzlauer Berg als Lüge heraus, jetzt gibt es Zweifel an dem Potsdamer Überfall auf einen Deutsch-Äthiopier. Sehen Sie Grund zur Entwarnung?

Nein. Neue Überfälle auf Ausländer zeigen leider, dass es keinerlei Grund zur Entwarnung gibt. Der Angriff auf den Politiker Sayan in Berlin-Lichtenberg steht uns allen deutlich vor Augen. Die niederträchtige Behandlung des Kindes äthiopischer Herkunft durch Jugendliche in Pömmelte wurde gerade vor Gericht verhandelt. Der in diesen Tagen veröffentlichte Verfassungsschutzbericht schildert leider eine steigende Zahl von Übergriffen. Das muss uns beunruhigen; es fordert Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und persönliches Engagement.

Ist der Rechtsextremismus ein Sonderproblem in Ostdeutschland?

Wir sollten nicht so tun, als gäbe es dieses beunruhigende Phänomen nur im Osten Deutschlands. Allerdings ist das Problem dort zugespitzt. Schon in der DDR gab es Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und nationalistische Einstellungen. Offenbar hat man sich das nicht deutlich genug bewusst gemacht. Im Osten ist die jüngere Generation außerdem besonders verunsichert, was ihre Lebenssituation und ihre Zukunftschancen betrifft. Das ist ein Umfeld, in dem leicht Extremismus entsteht. Und noch etwas ist anders als im Westen: In den neuen Bundesländern gibt es ein Phänomen von Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde. Die wenigen Menschen mit anderer Hautfarbe, die sich im Osten bewegen, sind dann tatsächlich besonders gefährdet.

Zugleich leidet Ostdeutschland unter der Abwanderung. Verstärkt die Entvölkerung das Problem?

Sie trägt dazu bei, weil diejenigen gehen, die besonders aktiv, mobil und zuversichtlich sind. Unter denen, die bleiben, ist ein hoher Anteil von Menschen, die sich von der Gesellschaft enttäuscht abwenden, weil sie schlechte Ausbildungs- und Berufschancen haben. Das kann in eine Protesthaltung münden, aus der heraus Menschen dann ihre Zuflucht auch zum Rechtsextremismus nehmen.

Halten Sie die Debatte über die No-Go-Areas für hilfreich?

Es ist wichtig und richtig, dass Menschen auf Leib und Leben achten. Es gibt sowohl Tageszeiten als auch Gegenden, in denen man sich - wenn überhaupt - besonders vorsichtig bewegen sollte. Aber die Ausrufung von so genannten No-Go-Areas ist nicht hilfreich. Wir können Deutschland nicht unterteilen in einen Teil, in dem man sich frei bewegen kann, und einen anderen, in dem das nicht mehr geht.

Aber wenn das doch die Realität ist?

Natürlich habe ich Verständnis dafür, dass eine Institution wie der Afrika-Rat, dessen Mitglieder selber betroffen sind, über Warnungen nachdenkt. Trotzdem bedrückt mich die Diskussion. Vor ein paar Jahren haben wir uns zu Recht darüber empört, dass Rechtsextreme so genannte National Befreite Zonen ausgerufen haben, wo sie weder Linken noch Ausländern den Zutritt gestatten wollten. Wenn man nun manche Gegenden als "No-Go-Areas" bezeichnet, die man nicht ohne Gefahr für Leib und Leben betreten kann, bestätigt man gerade den Erfolg dieser Strategie. So weit solche Zonen wirklich existieren, gibt es die Pflicht zu einer verstärkten polizeilichen Präsenz. Eine Kapitulation vor den Rechtsextremen darf es nicht geben.

Welche Rolle spielen die Pfarrer der evangelischen Kirche?

In vielen Orten sind die Kirchengemeinden und die Pfarrer ein Kern von Bündnissen gegen Rechtsextremismus. Kirchliche Mitarbeiter sind oft auch diejenigen, die zu manchen Familien noch am ehesten Zugang haben. Wenn es eine Verbindung zur Kirche gibt, kann ein Pfarrer darauf achten, welche Mentalität sich in der Familie ausbildet, wie mit den Kindern umgegangen wird und ob die Kinder in die rechtsextreme Szene abgleiten. Da beherzt einzugreifen, gehört zu den wichtigen seelsorgerischen Aufgaben.

Wo sehen Sie für staatliche Stellen mehr Handlungsmöglichkeiten?

Die größte Aufgabe sehe ich im Bereich von Bildung und Erziehung. Dort müssen wir den Mut aufbringen, keinen einzigen verloren zu geben. Jedem jungen Menschen müssen wir nachgehen und versuchen, ihn zu einer verantwortlichen Haltung zu bringen. Gerade die Jugendlichen, die auf einen Hauptschulabschluss zugehen, müssen wir so begleiten, dass sie im Anschluss einen Ausbildungsplatz finden. Vorbildlich finde ich die Projekte, in denen Verantwortungsträger aus der Wirtschaft Hauptschüler einzeln begleiten und auf ihre Bewerbungen vorbereiten.

Trifft das nicht genauso auf junge Migranten zu wie beispielsweise die Schüler der Berliner Rütli-Schule?

In der Tat sehe ich große Vergleichbarkeiten. Immer dort, wo es um Gruppen geht, die aus ihrer Dynamik heraus Fremden- oder Menschenfeindlichkeit entwickeln, müssen wir stärker auf die soziale Situation achten als auf den Reisepass. An Schulen, an denen ein großer Anteil der Kinder aus Migrantenfamilien stammt, schaffen nicht nur der Migrationshintergrund und die mangelnden sprachlichen Kompetenzen Probleme, sondern auch die soziale Situation und die Bildungsferne.

Das Gespräch führte Bettina Vestring.

Quelle: Berliner Zeitung vom 26. Mai 2006


Bischofskolumne in der B.Z. vom 26. Mai 2006
Bischof Wolfgang Huber, EKD-Ratsvorsitzender

Rechtsradikalismus

Der deutsch-türkische Politiker Giyasettin Sayan ist das jüngste prominente Opfer einer Gewalttat, bei der es schwer fällt, keine rassistischen Motive zu vermuten. Dieses Mal war es in Berlin-Lichtenberg, wenige Wochen zuvor in Potsdam. Gewiss gibt es Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und nationalistische Einstellungen nicht nur im Osten Deutschlands. Allerdings spitzt sich das Problem hier zu. Bereits in der DDR gab es dies. Offenbar hat sich das niemand deutlich genug bewusst gemacht. Zudem ist in den neuen Bundesländern die jüngere Generation besonders über ihre Lebenssituation und ihre Zukunftschancen verunsichert. In einem solchen Umfeld entsteht leicht Extremismus.

Vor Jahren haben Rechtsradikale verkündet, sie würden bestimmte Stadtbezirke, ja ganze Städte zu „National Befreiten Zonen“ machen. Sie stellten sich vor, dass sich weder Menschen mit anderer Hautfarbe noch Menschen, deren Auftreten einen Mangel an „nationaler Gesinnung“ vermuten lasse, nicht mehr in diese Bereiche wagen würden. Mich hat diese Ankündigung empört. Ich bin davon überzeugt, dass eine freie und demokratische Gesellschaft sich mit einem solchen Vorhaben nie abfinden darf. Deshalb widerstrebt alles in mir dem Gedanken, bestimmte Bereiche zu „No-Go-Areas“ zu erklären. Das klingt so, als sollte das Feld für solchen Extremismus geräumt werden.

In Berlin und Brandenburg bemühen sich viele Initiativen, darunter auch zahlreiche Kirchengemeinden, mit rechtsextremistischer Gewalt und Fremdenfeindlichkeit offen umzugehen. Das habe ich über Jahre aus nächster Nähe miterlebt und mitgestaltet.

Und trotzdem: Es gibt Regionen in Berlin, Brandenburg und anderswo, in denen sich Menschen mit anderer Hautfarbe nur mit Vorsicht bewegen können. Der Staat hat die Pflicht dafür zu sorgen, dass keine Angsträume entstehen. Auch eine deutliche Präsenz der Polizei ist dafür nötig. Straftaten, denn nichts anderes sind Übergriffe mit fremdenfeindlichen Hintergrund, müssen schnell aufgeklärt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.

Wo Menschen gedemütigt werden, kann sich niemand der Verantwortung entziehen. Jeder sollte das Wort Jesu beherzigen: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“

Damit junge Leute sich nicht in rechtsextreme Haltungen verirren, müssen wir jedem einzelnen nachgehen und versuchen, ihn zu einer verantwortlichen Haltung zu bringen.

Gerade Jugendlichen, die auf einen Hauptschulabschluss zugehen, müssen wir helfen, dass sie eine Chance auf eine Ausbildung erhalten. Vorbildlich finde ich Projekte, in denen Mitarbeiter aus der Wirtschaft Hauptschüler einzeln begleiten und sie auf ihre Bewerbungen vorbereiten. Dort, wo Nachbarn, Lehrer und Politiker hinschauen, kann sich die Atmosphäre zum Besseren verändern. Eltern dürfen nicht schweigend zusehen, wenn ihre Kinder in den Bann einer rechten Jugendkultur geraten. Denn wer in einer Demokratie leben will, muss auch für eine demokratische Kultur kämpfen. Nur durch das Einstehen für die Würde des Menschen im Alltag behält unser Land ein menschliches Gesicht.

Quelle: B.Z. vom 26. Mai 2006