Blick in eine fremde Welt: "Die Blindgänger"

In diesem Film setzt sich Regisseur Bernd Sahling mit dem Leben sehbehinderter Jugendlicher auseinander

Von Katrin Hoffmann

Frankfurt a.M. (epd). Kann das gut funktionieren? Ein Film über blinde Jugendliche mit blinden Schauspielern, ohne dass die Macher die sonst übliche Betroffenheitsposition einnehmen? Bernd Sahlings «Die Blindgänger» ist ein exzellentes Beispiel dafür, dass es geht - ihm ist ein leichter, bisweilen komischer Film geglückt, der sich ganz unbefangen an das Thema heranwagt.

Die Geschichte von Marie und Inga, beide 13, spielt in einem Internat für Sehbehinderte. Sie werden uns als ganz normale Jugendliche vorgestellt: Inga, die eher draufgängerische, die am Wochenende in die Disko geht und gern Spaß hat. Ihre beste Freundin Marie ist zurückhaltender, ihre freie Zeit verbringt sie lieber im behütenden Internat - bis sie den Russen Herbert kennen lernt, dem sie Unterschlupf gewährt.

Sahling handelt das Thema «Blindheit» nicht auf der inhaltlichen Ebene ab, inszeniert kein emotionales Rührstück, sondern macht «blind sein» auf der visuellen Ebene des Films nachvollziehbar. Die erste Szene beginnt mit dem Blick in einen weißen Himmel, dazu hört man Maries fröhliches Summen. Langsam schwenkt die Kamera zu ihr hinunter in die Winterlandschaft. Schnee knirscht, Geklapper ist zu hören, ein Stock rattert am Zaun vorbei, überrascht stellt man fest, dass es ein Blindenstock ist. Dann liegt ein Baumstamm quer über dem Weg, Marie hält kurz inne, um sich zu vergewissern, dass dies jetzt die richtige Stelle ist, ein kleiner Sprung und drüber ist sie.

Der Bann ist gebrochen, wir sind mitten in der Geschichte eines blinden Mädchens, eines fröhlichen, selbstbewussten Mädchens, das seinen Weg geht. Die Geräusche nehmen auch weiterhin eine zentrale Rolle ein - sei es im Klassenzimmer, wenn die Kinder auf ihren Schreibmaschinen mit einem Höllenlärm die Blinden-Schrift aufs Papier stanzen, oder sei es, dass eine Mülltonne mit Getöse die Treppen herunterfällt.

Herberts Pfiff wird für Marie zum Erkennungszeichen, sie hört ihn aus dem größten Tumult heraus. Und schließlich ist da noch der Klang der Instrumente. Über die Musik leben die beiden Mädchen ihre Emotionen aus, und so liegt es nahe, dass sie eine Band gründen: «Die Blindgänger». Fern jeden Mitleids weckt der Film Bewunderung für ihre Talente, ihren Einfallsreichtum und ihre Durchsetzungsfähigkeit.

Neben den Geräuschen ist es die Lichtinszenierung, mit der sich «Die Blindgänger» dem Thema nähert. In der Beleuchtung macht der Film wenig Zugeständnisse an die Zuschauer, etwa wenn die Mädchen allein im Waschraum sind oder vor dem Fernseher hocken - da brennt kein Licht, weil sie eben keines benötigen. Die Szenen werden nur durch das Leuchten der Mattscheibe oder durch ein Fenster erhellt. Gleichzeitig vermitteln diese dunklen Bilder eine geborgene, warme Atmosphäre. Im Internat geht es Inga und Marie gut, sie bewegen sich hier sicher und haben als letzten Halt immer Herrn Karl (Dominique Horwitz), ihren Betreuer. Er nimmt sie ernst und stellt keine unangenehmen Fragen.

Der Film, dessen Produktion der Rundfunkbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) unterstützt hat, ist ein Plädoyer für einen selbstverständlichen und selbstbewussten Umgang mit dem Blindsein. «Es existiert die Neigung bei Kinderfilmen zu verniedlichen», sagt Regisseur Bernd Sahling. «Ich nenne es kindeln': dass die Konflikte nicht ganz so hart sind und dass man sich daran orientiert, welches Ende Kinder lieber sehen.» Das sei nicht seine Arbeitsweise, betont Sahling. «Kinder haben verdient, dass man sie genau so ernst nimmt wie Erwachsene.»

Deutschland 2003. Regie: Bernd Sahling. Buch: Helmut Dziuba, Bernd Sahling. Mit:: Ricarda Ramünke, Dominique Horwitz, Maria Rother, Oleg Rabcuk. 88 Min. FSK: ohne Altersbeschränkung.

Im Frühjahr 2005 ist dieser Film bei Matthias-Film, der Medienvertriebsgesellschaft der EKD, als DVD educativ erhältlich.

28. Oktober 2004


Empfehlung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD):

“Die Blindgänger” erzählt die Geschichte von der blinden Marie, 13 Jahre alt. Im Internat findet sie jeden Weg. Auch ohne den weißen Stück. Blindsein ist hier kein Problem. Wäre da nicht die geheime Sehnsucht nach der Welt der sehenden. - Aber für die Schritte jenseits der Geborgenheit braucht man Mut... Da begegnet sie Herbert. Er kann sehen - und sieht doch nichts. Aber Marie spürt, dass sich durch diese Begegnung alles verändern wird. Sie fühlt, dass sie plötzlich sehen kann. Sogar eine eigne Band gründen und bei einem TV-Wettbewerb mitmachen.

Wir halten diesen Film für äußerst geeignet, um ihn gemeinsam mit Konfirmandengruppen, Jugendgruppen oder mit Familienkreisen zu sehen. Denn neben der guten Unterhaltung bietet er einen Ausgangspunkt zum Diskutieren: Wie gehen wir um mit Menschen, die behindert sind? Was bedeutet es, behindert zu sein? Gerade in der Pubertät, wenn man ein Gefühl für sich selbst entwickelt - oder Gefühle jfür andere Menschen? All diese Fragen regt der Film an, auf eine spielerische Weise und wie nebenbei. Dabei bleibt er immer berührend und humorvoll. So vermittelt er Werte wie Toleranz auf eine besondere Weise. Eine sensible Geschichte über die allererste Liebe und das Erwachsenwerden. Ein einfühlsamenes Plädoyer für den Mut, den eigenen Weg zu gehen.

Diese Vielschichtigkeit verdankt er vor allem der großen schauspielerischen Leistung der Hauptdarsteller: der auch im wirklichen Leben blinden Ricarda Ramüke und Maria Rother und dem bekannten Film- und Theaterschauspieler Dominique Horwitz.
Der Film, der in Thüringen gedreht wurde, ist Gewinner des deutschen Filmpreises in Gold in der Kategorie “Kinder- und Jugendfilm” 2004 und war der einzige deutsche Beitrag im Kinderfilmwettbewerb der 54. Internationalen Filmfestspiele Berlin 2004.

Wir wünschen diesem Film möglichst viele Zuschauer, weil wir glauben, dass seine Kombination von Unterhaltung und der Vermittlung von Werten außergewöhnlich ist. Und gerade Kinder brauchen Filme wie ‘Die Blindgänger’: sensibel, präzise, nahe am Leben und Mut machend.”

Jörg Bollmann, Bernd Merz
für die Evangelische Kirche in Deutschland