Bischof Noack verteidigt "Montagsdemos" gegen Hartz IV

Baden-Baden (epd). Der Magdeburger evangelische Bischof Axel Noack hat die «Montagsdemonstrationen» gegen die Hartz-IV-Reform verteidigt. Er habe sehr viel Verständnis für die Sorgen der Demonstranten, sagte Noack am Montag im Südwestrundfunk Baden-Baden. Zugleich nahm er die in mehreren ostdeutschen Städten geplanten Demonstrationen gegen den Vorwurf in Schutz, sie beleidigten das Andenken der Freiheitsbewegung von 1989 in der DDR.

Er selber hätte zwar den Vergleich mit den «Montagsdemos» von 1989 nicht gezogen. Aber aus «demonstrationstaktischen» Gründen sei es nicht unklug, diesen Begriff zu nutzen, sagte der Bischof der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen. Der Begriff «Montagsdemonstrationen» sei noch in guter Erinnerung und beinhalte schon den Termin der in vielen Orten angestrebten Kundgebungen. Aus dem historischen Bezug könne aber nicht geschlossen werden, dass die Mehrheit der Menschen der Freiheit überdrüssig sei.

Die «diffuse Angst», die sich in den Demonstrationen ausdrücke, verdiene durchaus Sympathie, so Noack weiter. Über die Folgen der Hartz-IV-Reform bestehe immer noch zu wenig Klarheit. Die Sorge sei zudem begründet, dass der versprochene Nutzen der Neuregelungen in Ostdeutschland viel geringer ausfalle als im Westen und damit der «Graben» zwischen beiden Landesteilen noch tiefer werde.

Noack warnte davor, dass durch die derzeitigen Debatten über Sozialreformen das Vertrauen in die Institutionen von Staat und Gesellschaft immer mehr schwinde. Der Kirche falle die große Aufgabe zu, ein Abrutschen in eine unsolidarische Gesellschaft zu verhindern und darauf hinzuweisen, dass Gemeinwohl genauso wichtig sei wie Eigennutz. Zur Kirchenprovinz Sachsen gehören rund 533.000 evangelische Christen.

09. August 2004


Das Interview im Wortlaut:

Rudolf Geissler: Neben anderen ostdeutschen Städten wird heute Ihr Amtssitz Magdeburg zum zweiten Mal eine Demonstration gegen die Hartz IV Reform erleben, werden Sie selbst dabei sein?

Axel Noack: Ich selbst werde sicherlich nicht dabei sein, aber es ist gleich hier neben unserem Hause, also neben unserem Dom und ich habe ja meinen Dienstsitz auch hier am Dom und wir werden sicherlich auch als Kirche gucken, was wir dazu tun können, wir sind noch ein bisschen am überlegen, weil wir natürlich so eine Demonstration auch nicht bevormunden wollen. Andererseits wiederum denke ich, haben wir auch schon eine gute Tradition damit, dass wir geguckt haben, dass Demonstrationen auch friedlich verlaufen.

Haben Sie da bedenken?

Nein, das habe ich eigentlich nicht. Es ist ja auch eine wichtige Sache, dass es Demonstrationsmöglichkeiten gibt, dafür haben wir uns ja auch einmal bemüht, dass man demonstrieren darf, auch gegen die Regierung demonstrieren darf.

Haben Sie denn Verständnis für das Anliegen der Demonstranten in diesem konkreten Fall?

Ich habe sehr viel Verständnis für ihre Sorgen, für ihr Gefühl. Aus dem Bauch heraus habe ich ganz viel Verständnis, vom Kopf her habe ich auch ein paar Bedenken natürlich, weil ich glaube, dass die Probleme mit denen wir es jetzt zu tun haben, die lassen sich nicht so kurz auf ein Plakat setzen. Damals zu demonstrieren, zu sagen: Freie Wahlen, das war für alle klar, aber jetzt zu sagen: Hartz IV muss weg, das ist ein bisschen zu schlicht.

Sie beziehen sich darauf, dass die Organisatoren ja ausdrücklich Bezug nehmen auf das Vorbild der Montagsdemonstrationen von 1989 in der DDR. Sie haben sich ja deshalb die Empörung von Wirtschaftsminister Clement zugezogen, der von einer Beleidigung der Demonstranten von ’89 spricht. Empört Sie der Begriff in diesem Zusammenhang auch?

Nein. Empörung würde ich überhaupt nicht sagen. Ich sehe das eher mit einem Schmunzeln. Wenn jetzt die PDS bei Montagsdemos dabei ist, dann kann man sich eher freuen, dass sie was dazu gelernt haben. Also mit Empörung nicht. Ich hätte den Vergleich nicht so gezogen, weil es wirklich eine völlig andere Situation ist. Aber empören kann ich mich darüber auch nicht.

Wenn es nicht Gleichsetzung der Systeme ist – das sagt ja auch der berühmte Leipziger Pfarrer Führer, der ja die Montagsdemonstration von 1989 mit organisieren half, wenn es nicht Gleichsetzung Deutschland heute mit der DDR ist – wie ist denn dann aus Ihrer Sicht diese begriffliche Anleihe zu verstehen? Warum diese Anleihe?

Na ja, weil das ist in guter Erinnerung. Außerdem muss man sich überlegen: wenn man etwas gemeinsam erreichen will, dass es in allen Städten passiert oder in vielen Städten passiert, man muss nicht nach einem Termin überlegen – mit dem Montagsbegriff ist das alles schön abgedeckt. Also ich finde das schon demonstrationstaktisch nicht völlig unklug, dass man das so wählt.

Damals wie heute geht es ja auch um die wirtschaftliche Zukunft. Ist das vielleicht die Verbindungslinie, erleben wir mit Hartz IV auch eine historische Zäsur?

Das würde ich so nicht sagen. Da kann ich die Verbindung noch nicht so sehen. Die wirtschaftlichen Sachen, die damals in der Leipziger Demonstration oder in den Montagsdemos ’89 eine Rolle spielten, die waren ja auch sehr blauäugig. Da waren am Ende auch viele dabei, die sagten: kommt die D-Mark, bleiben wir – kommt sie nicht, gehen wir zu ihr. Und man hat vor allen Dingen auf Freiheit gesetzt. Ich glaube, die Schwierigkeit und die Last auch mit Freiheit umzugehen, die war damals noch nicht so vielen so bewusst. Ein paar haben das klar gesehen, dass wir nicht ins Himmelreich fallen, dass nun das Schlaraffenland ausbricht, aber natürlich ist auch jetzt ein Stück Enttäuschung dabei. Also ich denke, vor allen Dingen auch ein Grund, der mein Herz für die Demonstranten schlagen lässt, ist auch diese Frage: wird durch Hartz jetzt der Ost-West-Gegensatz oder der Unterschied und der Graben vertieft.

Wird er denn?

Ja, ich denke mal, die Prognosen, die so über die Auswirkungen gemacht werden, sagen schon so etwas. Und ich glaube, nicht zu unrecht haben auch die östlichen Ministerpräsidenten auch dagegen gestimmt, weil sie doch sagen: die ganzen positiven Wirkungen die Hartz IV ja haben soll, und weswegen man es ja auch macht, die werden wahrscheinlich hier nicht so gut eintreffen wie man sich das denkt. Dafür sind die Unterschiede zu groß. Und das eingesetzt auf ganz Deutschland muss ja jetzt sein, wir können ja auch nicht auf der Teilung laufend bestehen. Aber das ist jetzt so doch wieder erst einmal ein Gefühl, man weiß es noch nicht so genau, noch nicht so vieles, und das macht ja auch die Sache so unklar und, dass solche Demonstrationen leicht von Demagogen genutzt werden können. Und einfach sagen: Hartz IV muss weg, das ist auch schwierig. Aber wenn man gegen Demagogen vorgehen will, muss man Aufklärung betreiben. Aber wie will man aufklären, wenn noch so vieles unklar ist.

Wenn die Forderung lautet: weg mit Hartz IV, dann ist es ja noch keine Antwort auf dei Finanzierungsprobleme, auf die Herausforderungen durch die Globalisierung, auf die sich die Regierung beruft. Ist da also ein Stück Naivität im Spiel bei den Demonstranten, oder was ist das?

Ich meine, also gut, das gehört aber auch dazu, dass Demonstranten mit Plakaten kommen – da kann man keine komplizierten Lösungen andenken. Das ist erst einmal Ausdruck des Gefühls.

Aber einer der Teilnehmer der Demonstration vom letzten Montag hat ins Mikrofon eines Reporters gesagt: er schätze die gewonnen Freiheiten der Demokratie überhaupt nicht gering ein, nur wenn es heute im Gegensatz zu früher reisen dürfe, das aber nicht bezahlen könne, dann werde die Freiheit zur Formalie. Sind das solche grundsätzlichen und dann ja auch höchst brisante Gedanken, die die Ostdeutschen bewegen, oder ist es doch mehr diffuse Angst.

Also ich würde es mehr unter das Zweite rechnen, mehr so eine diffuse Angst, eine richtige ernsthafte Besorgnis, weil ja jetzt immer auch noch unklare Meldungen nach draußen gehen. Es ist auch nicht sehr gut gemacht. Also wenn man solche einschneidenden Maßnahmen vornehmen will und dann so vieles noch unklar und offen ist und sie mit einer Angstmeldung nach der anderen gejagt werden, dann bringt das ein diffuses Angstgefühl. Ich glaube nicht, dass man sagen kann, dass die Mehrheit der Menschen der Freiheit überdrüssig ist und sie sich an die Fleischtöpfe Ägyptens zurücksehnen. Das sind ein paar Leute, aber das wird die Mehrheit der Menschen überhaupt nicht wollen.

Wie gehen Sie denn, wie geht die Kirche jetzt mit diesen Gefühlen um, die sich jetzt auch auf der Straße Luft machen – um diese Gefühle gegebenenfalls auch im Rahmen zu halten?

Na ja, genau das ist der Punkt. Die Kirche hat natürlich viel Sympathie für die Menschen, die das jetzt betrifft und wir bemühen uns natürlich auch, im Rahmen unserer Möglichkeiten – die Kirche hat immer etwas Aufklärerisches zu tun – aber es ist eben an vielen Stellen, wie gesagt, eben noch nicht so klar. Und dass man Menschen auch wirklich Ängste nehmen kann, und dass man eben sagen kann, es geht nicht um das Sparbuch deiner Kinder, es geht nicht darum, dass du jetzt aus deinem Häuschen raus musst oder deinen Garten verlierst. Sondern man muss da schon ein bisschen genauer hingucken, wie man sagen kann: es ist richtig, dass wir Menschen füreinander einstehen, dass wir solidarisch sind. Und das ist ein bisschen meine Sorge. Mit den Ängsten, da wird es sicherlich auch Lösungen geben. Aber meine Sorge ist, dass wir durch die ganzen Debatten, die wir jetzt führen, das Vertrauen in die Institutionen der Gesellschaft und des Staates, der Gewerkschaften, der Parteien immer mehr schwindet. Und das ist für eine Gesellschaft auch tödlich. Also wenn man nur noch sagt: die Reichen sollen Geld abgeben und man muss sie dazu zwingen, wenn man nicht mehr damit rechnen kann, dass es in einer Gesellschaft auch so etwas gibt wie Solidarität, die natürlich ist. Also wo die sagen: Jawohl, Eigentum verpflichtet, und wir gegen von unserem Geld ab, Gott sei Dank tun das ja auch viele. Es ist ja auch nicht so, dass die Gesellschaft völlig unsolidarisch ist, aber die Sorge jetzt ist, dass das Misstrauen zueinander wächst, jeder muss auf seins gucken und es wird den Leuten ja auch immer wieder eingeredet: liebe Leute, bezahlt möglichst wenig Geld an den Staat, gebt möglichst wenig Steuern, wir müssen alle Tricks euch verraten, dass man keine Steuern zahlen muss und sozusagen: den Geist und den Gedanken, dass Gemeinwohl genauso wichtig ist, wie mein Eigennutz, das rutscht uns ein Stückchen weit weg, und da hat die Kirche, denke ich, eine ganz große Aufgabe.

Quelle: Südwestrundfunk (SWR) vom 09. August 2004