Kirche und Diakonie in Hessen beschäftigten 261 Zwangsarbeiter

Frankfurt a.M. (epd). In kirchlichen und diakonischen Einrichtungen in Hessen waren in der NS-Zeit 261 Zwangsarbeiter beschäftigt. Es sei nicht auszuschließen, dass es neben diesen namentlich nachweisbaren Personen weitere Zwangsarbeiter gegeben habe, sagte der Marburger Historiker Dirk Richhardt am Montag in Frankfurt bei der Vorstellung eines Forschungsberichts. Richhardt hatte im Auftrag der Evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau und von Kurhessen-Waldeck sowie deren Diakonischen Werken zwei Jahre nach Spuren von Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie geforscht.

Kirche und Diakonie seien in das nationalsozialistische System der Zwangsarbeit tiefer verstrickt, als sie es lange Zeit für möglich gehalten hätten, sagte der hessen-nassauische Kirchenpräsident Peter Steinacker. Die nun vorgelegte Publikation helfe, klarer zu sehen, zu bedauern und um Versöhnung zu bitten. Bischof Martin Hein (Kassel) würdigte die methodische Solidität der Forschungsarbeit. Sie setzte keinen Schlusspunkt, sondern rege zu weiterer Forschung an und sei ein Ansporn für die Kirche, in ihrer Versöhnungsarbeit nicht nachzulassen.

Die in Kirchen und Diakonie eingesetzten 261 Personen hätten 0,4 Prozent aller 170.000 Zwangsarbeiter im Gebiet von Hessen im Jahr 1944 ausgemacht, sagte Richhardt. Die Zwangsarbeiter in der Diakonie waren zu 39 Prozent in Garten- und Landwirtschaft und zu 21 Prozent in der Hausarbeit eingesetzt, wenige auch in der Pflege von Kranken oder Behinderten. Neun Menschen haben zwangsweise Hausarbeit in evangelischen Pfarrhaushalten geleistet. Der Großteil der Zwangsarbeiter stammte aus Polen und aus der ehemaligen Sowjetunion.

Den Zwangsarbeitern bei Kirche und Diakonie sei es menschlich und körperlich besser ergangen als denen in staatlichen Stellen und in der Industrie, erläuterte Richhardt weiter. Dies habe er anhand von Fotos und Speiseplänen feststellen können. Es habe auch keine Fluchtversuche oder Umsetzungsanträge gegeben. Das jetzt veröffentlichte Ergebnis basiere auf allen heute zugänglichen Akten in etwa 30 Archiven und zehn Dokumentationsstellen sowie auf Berichten von Augenzeugen und Unterlagen in den Einrichtungen selbst.

Besonders tragisch sei, dass viele der 1945 heimkehrenden Zwangsarbeiter zu Hause als «Kollaborateure» eingestuft und in Lagern inhaftiert worden waren, sagte der Historiker. Aus diesem Grund hätten viele bis heute diesen Teil ihrer Biografie verschwiegen. In dem Bericht habe man deshalb auch keine Namen veröffentlicht.

Hinweis: Das Buch «Zwangsarbeit im Bereich von evangelischer Kirche und Diakonie in Hessen» ist als Band 8 in der Schriftenreihe «Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte» erschienen. Es kostet sechs Euro und kann über den Buchhandel, die evangelischen Kirchen oder die diakonischen Werke bestellt werden.

20. Januar 2004