Flucht in einen weißen Weihnachtstraum

Das Lied "White Christmas" spiegelt wehmütige Sehnsüchte nach heiler Welt

Von Alexander Lang (epd)

Frankfurt a.M. (epd). Man kann sich diesem Lied nicht entziehen. «White Christmas» nervt als süßliche Kaufhausberieselung, verfolgt einen spätestens ab November auf Schritt und Tritt. Und oft säuselt es noch an Heiligabend unterm Tannenbaum die berühmten Anfangszeilen: «I'm dreaming of ... » Kein Song, der das Publikum so spaltet wie «White Christmas». Den einen gilt die Ballade als größter Schmachtfetzen aller Zeiten. Die anderen preisen sie als perfekten, sich butterweich in die Gehörgänge schlängelnden Ohrwurm.

«White Christmas» ist das mit rund 600 Einspielungen am häufigsten interpretierte Lied. Und es ist mehr als die Vision einer schneeüberzuckerten, längst vergangenen Weihnachtszeit: «White Christmas» ist auch amerikanisches Heimatlied und Kriegshymne, ein patriotisches Werk, in dem sich ethnische und religiöse Gegensätze aufheben. Mehr als 125 Millionen Schallplatten wurden bisher verkauft. Die Version des Sängers Bing Crosby (1903-1977) hat in den USA die Kulturgeschichte des Weihnachtsfestes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitgeprägt.

Die älteste Niederschrift von «White Christmas» datiert vom 8. Januar 1940. «Es ist nicht nur das beste Lied, das ich je geschrieben habe, sondern das überhaupt jemals geschrieben wurde», kommentierte der Autor, der amerikanische Songschreiber Irving Berlin (1888-1989). Am 25. Dezember 1941 sang Bing Crosby in seiner eigenen Radioshow erstmals das 32-taktige Werk.

Danach stieg der Titel regelmäßig in die Spitzenplätze der amerikanischen Hitparade auf. Erst Elton Johns «Candle in the Wind» zum Tod von Prinzessin Diana (1997) verdrängte «White Christmas» von seinem ersten Platz im Guinness Buch der Rekorde als meistverkaufte Single aller Zeiten. Fast alle Größen der Pop- und Rockmusik von Frank Sinatra über Elvis Presley, den Beatles bis hin zu Celine Dion haben ihre Version von Berlins Stück veröffentlicht. «White Christmas» brachte «eine Saite tief im Unbewussten der amerikanischen Kultur zum Schwingen», schreibt der amerikanische Musikjournalist Jody Rosen in seinem neu erschienenen Buch über die kulturgeschichtliche Bedeutung des Liedes (White Christmas. Ein Song erobert die Welt, Karl Blessing Verlag, München 2003, 224 Seiten, 18 Euro). Der Traum von einer «weißen Weihnacht» reflektiere die wehmütige Sehnsucht nach einem friedlichen und harmonischen Leben in einer chaotischen Welt. «White Christmas» sei ein Lobgesang auf die längst vergangenen weißen Weihnachtstage, «jene, die ich von früher kannte».

Im Winter 1942 wurde «White Christmas» zur eigenartigen Kriegshymne: Der Hit war Symbol der Sehnsucht der heimwehkranken amerikanischen Soldaten. Die US-Militärs setzten das zweieinhalbminütige Lied vom heimeligen Weihnachtsfest zur Erhaltung der Kampfkraft ein. «White Christmas» war der Song, der die US-Soldaten «motivierte, ohne den Kampf auch nur zu erwähnen», schreibt Rosen. Am Ende des Vietnam-Kriegs spielte das Lied nochmals eine militärische Rolle: Die Streitkräfte benutzten es als Geheimcode für den Auftrag zur Evakuierung Saigons. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von «White Christmas» hatte die
nostalgische Sehnsucht nach einer ländlichen Vergangenheit die amerikanische Unterhaltungskultur fest im Griff. Irving Berlin dachte sein Lied ursprünglich als Parodie auf sentimentale Balladen. Doch der Traum von längst vergangenen Weihnachtstagen wurde vom Publikum als echte Sehnsucht nach der winterlichen Landschaft Neuenglands empfunden.

Mit dem Song habe Irving Berlin, der als Kind jüdisch-russischer Einwanderer nach Amerika kam, zudem «ein Glanzstück jüdischer kultureller Anpassung» abgeliefert, analysiert Rosen. «White Christmas» sei «die Ode eines russischstämmigen Kantorssohns an ein christlich-amerikanisches Fest». Damit habe sich Berlin von seinem jüdischen Erbe abgewandt. Ohne «White Christmas» wäre die Entstehung einer kommerziellen
Weihnachtskultur in den USA nach Einschätzung von Rosen kaum denkbar gewesen. In seiner Folge entstand ein neuer Kanon von populären Weihnachtsliedern. Filmmusicals und Weihnachtsfilme erschienen.  Der Songschreiber Berlin löste eine «Konsumlawine aus, die sich bis ins 21. Jahrhundert wälzt», schreibt Rosen. Das Weihnachtsfest sei zu einem Produkt geworden, das teuer verkauft werde: Als «Rückzug aus der hoch technisierten städtische Moderne».