Musik, die vom Himmel kommt

Lüneburger Turmbläser pflegt seit 25 Jahren eine seltene Tradition

Von Karen Miether

Lüneburg (epd). Wenn die Stundenglocke von St. Johannis zum neunten Mal schlägt, setzt Manfred Toews seine Trompete an. Aus Luken in den Kirchturmwänden bläst er allmorgendlich einen Choral in alle vier Himmelsrichtungen. Der Klang trägt weit über die Dächer. Seit 25 Jahren sorgt Turmbläser Toews in Lüneburg für Musik, die vom Himmel kommt. Der Glockenraum in mehr als 40 Metern Höhe ist sein Arbeitsplatz.

«Manchmal fällt mir auf dem Weg hoch schon ein, was ich blase», sagt der 62-Jährige. Exakt 200 eng gewundene Stufen steigt er hinauf, von Montag bis Samstag jeden Tag. Da ist Zeit, sich Gedanken um das richtige Lied zu machen. Außer Atem gerät Toews nach 25 Jahren Training kaum noch. Am 1. Oktober 1978 kam der Ingenieur für Landbau ganz unvermittelt zu seinem Nebenjob als Turmbläser.

Nach der Renovierung des Turms in den 70er Jahren war die alte Tradition des Turmblasens von St. Johannis neu belebt worden. An seinem Schreibtisch im nahe gelegenem Amt freute sich Toews damals über die Musik. Dann aber gab es keinen Trompeter mehr. «So'n bisschen blasen kann ich auch», sagte Toews zu einer Kollegin. Sie rief gleich bei der Kirchengemeinde an. Am selben Abend wurde Toews engagiert: «Vom Fleck weg, ohne dass ich einen Ton geblasen habe.»

Das Choralblasen von St. Johannis habe seine Wurzel im Dreißigjährigen Krieg, berichtet Toews. Der Sage nach haben damals durch den Salzabbau zu Reichtum gekommene Bürger, die Sülfmeister, ein Gelübde getan. «Weil die Stadt nicht eingenommen wurde, zahlten sie für einen Bläser. Zur Ehre Gottes sollte er täglich von St. Johannis einen Choral in alle vier Winde blasen.»

Dem Gelübde der Sülfmeister fühlt sich auch Manfred Toews verbunden. Er sieht in seinem Spiel «ein Stück christliche Verkündigung mit Melodien, die Emotionen anrühren». So lange es geht, will der Turmbläser die in Deutschland seltene Tradition weiter pflegen. Heute spendet der Rotary-Club das Honorar für das Turmblasen.

«Es ist schön, die Stadt von oben zu sehen, jeden Tag wieder neu», sagt Toews. Bis zu 290-mal im Jahr steigt er auf den Kirchturm. In Urlaubszeiten wird er vertreten. Bleibt die Musik von St. Johannis aus, fehlt vielen Lüneburgern etwas. «Es gibt dann Nachfragen», weiß der Turmbläser. Manchmal bekommt er Dankesbriefe. Und auf dem Schulhof nebenan applaudieren schon mal Schüler, wenn er aus der Kirche kommt.