Obdachlose: Lieber krank und frei als in ein Heim

Viele Obdachlose scheuen vor Arzt- und Pflegeangeboten zurück

Von Isabel Fannrich

Berlin (epd). Klaus Schuster (Name geändert) fühlt sich gefangen. Nach vielen Jahren ohne Job und Wohnung lebt der 63-Jährige seit Anfang Juli in einem kleinen Zimmer auf einer Etage mit 19 anderen Frauen und Männern in einer Einrichtung der Berliner Stadtmission. Drei Mal täglich zu festen Zeiten gibt es Essen. Dann träumt Schuster von einer «schönen kleinen Wohnung», von 20 Quadratmetern mit Innenklo und Bad. Doch die Wohnung bleibt ein Traum. Schuster, der nach Alkoholmissbrauch vom Kopf her «abgebaut» hat, wie Schwester Antje sagt, muss auf lange Sicht gepflegt werden.

In Deutschland gab es nach Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe im Jahr 2002 etwa 410.000 Wohnungslose. Viele sind vom «Platte machen» krank geworden, leiden unter Nervenkrankheiten oder Durchblutungsstörungen infolge von Alkoholkonsum oder sind psychisch krank.

Die leichteren Pflegefälle lassen sich ohne feste Unterbringung ambulant versorgen. So gehen im Kölner Projekt «Spurensucher» die Sozialarbeiter, die Krankenschwestern und ehrenamtlichen Ärzte auf die Straße, um Wohnungslose dort zu behandeln. Außerdem bietet der «Mobile Medizinische Dienst» vom städtischen Gesundheitsamt Sprechstunden in einem Behandlungsbus an, weil viele Wohnungslose sich davor scheuen, Ärzte in ihrer Praxis aufzusuchen.

Zur Pflege gehört alles, was ein Arzt in der Regel nicht macht. Bei der so genannten Grundpflege entlausen Krankenschwestern und -pfleger ihre Patienten, sie behandeln die offenen Wunden, helfen beim Toilettengang oder der Körperpflege. Und sie leiten ihr Gegenüber an, frische Wäsche zu nehmen, sich zu duschen oder sogar einen Verband anzulegen.

Sogar Schwerstpflegefälle leben auf der Straße, erzählt Hildegard Erber, die als Krankenschwester im Kölner Behandlungsbus arbeitet. «Wir haben Obdachlose hier, die sich im Rollstuhl von Notschlafstelle zu Notschlafstelle karren», berichtet sie. Zu ihr kommen auch Patienten, die aus dem Altersheim ausgerissen und gleichzeitig «todkrank» sind. So sei ein krebskranker «energischer alter Herr plötzlich in der tiefsten Obdachlosen-Szene» aufgetaucht, weil er seine Rente nicht für ein Leben in Unfreiheit ausgeben wollte.

Die Ärzte und das Pflegepersonal dieser «aufsuchenden» Projekte raten den Menschen auf der Straße, bei schweren Krankheiten erst einmal ein Krankenhaus aufzusuchen. Manchmal sammelt die Feuerwehr Bewusstlose oder hilflose Betrunkene ein und bringt sie in die Klinik. «Es sind meist Leute im mittleren Alter», erzählt Marion Schwing, Sozialarbeiterin beim Sozialdienst des Elisabeth-Krankenhauses in Berlin-Tiergarten. «Sie kommen meist mit dem Kopf unter dem Arm, können aber nach zwei bis drei Wochen wieder gehen.»

Die wenigen schweren Pflegefälle werden vom Krankenhaus etwa an Pflegeheime vermittelt, sagt Schwing. Das Hilfsangebot der Kommunen aber auch der freien Träger wie Diakonie, Paritätischer oder Caritas sei enorm: «Es liegt an den Obdachlosen, wenn sie auf der Straße leben möchten.» Natürlich gebe es Heime, die nicht gerne «nasse» Alkoholiker aufnehmen. «In den letzten Jahren sind in Berlin aber so viele Pflegeheime entstanden, dass sie sich nicht leisten können abzusagen.»

«Es ist kein Problem, einen Platz zu finden, wenn Wohnungslose dazu bereit sind», sagt auch Beate Flügel vom Berliner Landesamt. Doch hätten diese häufig «Vorbehalte, sich an Regeln zu halten, wenn sie in einem Einzelzimmer leben». Außerdem wollten Wohnungslose, die eine Rente oder Arbeitslosengeld beziehen, sich häufig nicht an den Kosten für eine stationäre Unterbringung beteiligen und auf ein monatliches Taschengeld beschränkt werden.

«Man muss als Arzt oder Krankenschwester bei den Obdachlosen bekannt sein und sich vertraut machen», sagt Hildegard Erber aus Köln. Denn egal, ob der Wohnungslose in einer Einrichtung oder auf der Straße lebt - er kann jahrelang jede Behandlung und Pflege verweigern. Erst mit der Zeit könne Vertrauen entstehen.

So wird die Krankenstation in Berlin-Tiergarten von alt bekannten Obdachlosen immer wieder aufgesucht. Viele bleiben jahrelang. «Ein Großteil der Bewohner lebt hier bis zum Tod», sagt Cornelia Leibholz von einem Berliner Wohnprojekt. Nur wenige könnten in andere Einrichtungen vermittelt werden, wo sie von mehr Personal betreut werden. Fernziel ist eine eigene Wohnung.