Für weniger Kinder immer mehr Vornamen

Wissenschaftler spüren Trends hinter der Namenswahl auf

Von Rainer Clos (epd)

Brüssel (epd). Auf die Frage, wie sie heiße, antwortet das sommersprossige Mädchen mit den roten Zöpfen: «Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminza Efraimstochter Langstrumpf.» In Kinderbüchern aus der Nach-Pippi-Zeit hören die Hauptfiguren auf andere Namen. Häufig sind es solche, wie sie Jungen und Mädchen tragen, die Zielgruppe der Bücher sind.

Auskunft über die Namen, die aktuell am beliebtesten sind, gibt die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden. Alljährlich veröffentlicht sie eine «Top Ten» der Vornamen, die für Mädchen und Jungen am häufigsten vergeben werden. Wie schon in den Vorjahren war auf der jüngsten Liste der populärste Mädchenname Marie, bei Jungen Alexander. Die nächsten Plätze auf der neuen Beliebtheitsliste von Mädchennamen nehmen Sophie, Maria, Anna und Laura ein. Bei den Jungen folgten Maximilian, Paul, Leon und Lukas. Große Verschiebungen blieben in den vergangenen Jahren aus.

Hinter dem aktuellen Stand der Namensgebung verbergen sich jedoch auch grundlegende gesellschaftliche Veränderungen wie Individualisierung, Säkularisierung und Internationalisierung, finden Namensforscher. So stellten die Statistiker in Belgien fest, dass die Zahl der vergebenen Vornamen erheblich zugenommen hat, um fast die Hälfte seit 1960.

Namensgebung reagiert auf den wachsenden Wunsch, sich von anderen zu unterscheiden, Einzigartigkeit zu unterstreichen. «Wenn zu viele Menschen den gleichen Namen tragen, nimmt deren Fähigkeit zur Identifizierung ab», folgert der niederländische Wissenschaftler Gerrit Bloothooft.

Ann Marynissen von der Katholischen Universität Löwen führt die Zunahme unter anderem auf die Liberalisierung des Namensrechtes zurück. Musste früher in Belgien nachgewiesen werden, dass der Vorname schon einmal benutzt wurde, ist nun einzige Bedingung, dass ein Name dem Kind nicht schadet. Auch abweichende Schreibweisen, neben Lisa gibt es Liesa, Liza und Lieza, führten zum Anstieg.

Für Deutschland bestätigt der Soziologe Jürgen Gerhards diesen Trend, wonach auf Grund zunehmender Individualisierung immer weniger Kinder den gleichen Vornamen tragen. Waren im Jahr 1894 von 100 vergebenen Namen 33 unterschiedlich, so waren es Ende des 20. Jahrhunderts bereits 81, fand er heraus.

In seiner Studie «Die Moderne und ihre Vornamen» weist Gerhards nach, wie familiäre, nationale und religiöse Traditionsbrüche die Namenswahl beeinflussen. Als Belege für diese Verschiebungen führt er an, dass etwa Namen, die mit der neueren deutschen Geschichte verknüpft sind, wie Heinrich, Otto, Rudolf oder Wilhelm, vollkommen out sind, vor allem nach 1945 verloren sie an Reputation.

Im Zuge der Modernisierung und der damit verbundenen Entkirchlichung sei auch der Jenseitsbezug bei Namen einem Diesseitsbezug gewichen, registrierte Gerhards. Der Rückgriff auf Namen der Bibel und von Heiligen habe sich abgeschwächt. In protestantischen Familien habe dieser Trend schon Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt, eher deutsch-national klingenden Namen sei der Vorzug vor biblischen gegeben worden.

Dieser Schwenk sei im katholischen Milieu erst während der Weimarer Republik vollzogen worden. Speziell unter dem Eindruck der antikirchlichen Einstellung des Nationalsozialismus habe der Anteil christlicher Vornamen stark abgenommen, so eine Beobachtung von Gerhards, der an der Universität Leipzig den Lehrstuhl für Kultursoziologie und Allgemeine Soziologie inne hat. Ein weiterer Befund der Leipziger Studie ist, dass die Familientradition bei der Namensgebung an Bedeutung verloren hat. Immer seltener sind Namen von Eltern und Großeltern maßgeblich für die Auswahl von Vornamen für Neugeborene. "Entverwandtschaftlichung" über die Vornamensvergabe, umschreibt Gerhards diesen Rückgang der Traditionsweitergabe im Rahmen der Familie. Eine Renaissance deutscher und christlicher Vornamen will Gerhards indes für die Zukunft nicht ausschließen. Im Zuge von Modekonjunkturen sei ein Rückgriff darauf dann denkbar, wenn deren ursprüngliche Bedeutung vergessen worden sei.

Bei der aktuellen Namenswahl richten die Deutschen in Ost und West nach Erkenntnis des Sozialwissenschaftlers den Blick über die Grenzen - besonders stark nach Westen. Vor allem der romanische und anglo-amerikanische Kulturkreis liefern Inspiration, wie die Namensendungen belegen. Slawische Namen oder Vornamen, die mit der islamischen Tradition verbunden werden, hätten hingegen wenig Chancen.

Literatur: Jürgen Gerhards, Die Moderne und ihre Vornamen. Eine Einladung in die Kultursoziologie, Wiesbaden 2003, 202 Seiten. (06750/26.6.2003)