Von Gottlosen und Gottgläubigen

Christ sein bemisst sich nicht an Gottgläubigkeit, sondern ob man den Willen Gottes tut

Hermann Barth

Was heißt das eigentlich: “gottlos”? Als Jugendlicher half ich manchmal meinem Vater, die Gemeindegliederkartei auf den neuesten Stand zu bringen. Ich erinnere mich noch gut, dass auf etlichen Karteiblättern in der Spalte Konfession eingetragen war: “gottgläubig”. Mein Vater erklärte mir, diese Leute seien in der Nazizeit, teilweise auch schon vor 1933, aus der Kirche ausgetreten, hätten aber Wert darauf gelegt, als “gottgläubig” angesehen zu werden. Adolf Eichmann zählte übrigens auch zu den “Gottgläubigen”. Ist “gottlos” vielleicht das Gegenteil von “gottgläubig?” Aber viele Gottgläubige der Nazizeit waren eigentlich recht gottlos. In der Bibel, jedenfalls nach Luthers Übersetzung, kommt das Wort “gottlos” häufig vor, insbesondere in den Psalmen und der alttestamentlichen Weisheitsliteratur. Ein sehr schönes Beispiel ist Psalm 10. In dem, was dort über den Gottlosen gesagt wird, gibt es eine eigentümliche Unausgeglichenheit. “‚Es ist kein Gott’ sind alle seine Gedanken” heißt es einerseits. Aber andererseits wird gesagt: Der Gottlose “spricht in seinem Herzen: ‚Gott hat's vergessen, er hat sein Antlitz verborgen, er wird’s nimmermehr sehen ... Er fragt nicht danach’”. Wie nun? Rechnet der Gottlose mit einem Gott, oder tut er das nicht? Gibt es für ihn einen Gott, oder gibt es in seinen Augen keinen Gott?

Gewaltmenschen

Das Wort, das Luther mit “der Gottlose” übersetzt hat, bezeichnet eigentlich den Frevler, den Ruchlosen oder - so besonders deutlich in Psalm 10 - den Gewaltmenschen, der die Armen und Elenden bedrückt. Insofern ist es auch der Gegenbegriff zu einem Menschen, der Gott sucht und Gott dient. Dieser Hinweis, der alles nur noch komplizierter zu machen scheint, ist in Wirklichkeit der erste Schritt, um die Fäden zu entwirren und uns das Verständnis der Psalmaussagen zu erschließen. Die hebräische Sprache kannte - und kennt bis heute - das Wort “gottlos” nicht. Das heißt doch: So verstanden ist es ziemlich belanglos, ob jemand sagt: “Es gibt Gott” oder ob er sagt: “Es ist kein Gott”. Nicht darauf kommt es an, ob einer in einem vordergründigen Sinne gottgläubig ist oder gottlos, sondern darauf, ob er mit Gott rechnet. Man hat das auch manchmal so ausgedrückt: Der fromme Israelit des Alten Testaments hat es bei seinen Gegnern nicht mit einem theoretischen Atheismus zu tun, sondern er setzt sich mit einem praktischen Atheismus auseinander. Die Kampflinie ist nicht die theoretische Frage, ob ein Gott sei, sondern die Auseinandersetzung darüber, was es ganz praktisch im Leben bedeutet, dass wir im Angesichte Gottes leben.

Wenn sich das Verhalten ändert

Unter Bertolt Brechts “Geschichten vom Herrn Keuner” findet sich auch eine mit der Überschrift: “Die Frage, ob es einen Gott gibt”. Sie beginnt folgendermaßen: “Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: ‚Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde’". Ich sehe hier eine gewisse Parallele zu dem, was uns im 10. Psalm und im Alten Testament insgesamt begegnet. Die theoretische Frage, ob es einen Gott gibt, ist genau besehen uninteressant. Vielmehr kommt es darauf an, ob und wie es sich in meinem Leben konkret auswirkt, dass ich an Gott glaube. Gottgläubige können entsetzlich gottlos sein. Denn gottlos sein heißt: an Gott vorbei leben. Zur Not unserer Kirche gehört, dass noch für zu viele das Christ sein sich an der Gottgläubigkeit bemisst statt daran, den Willen unseres Vaters im Himmel zu tun. (Der Autor, Vizepräsident Dr. Hermann Barth (Hannover), ist Theologischer Leiter des Kirchenamtes der EKD)

Quelle: idea vom 19. Mai 2003