Ein Bibelwort für jeden Tag

Seit 275 Jahren gibt es die Tageslosungen der Herrnhuter Brüdergemeine

Von Hans-Dieter Frauer

Bad Boll (epd). Ein Bibelwort für jeden Tag holen sich ungezählte Christen in aller Welt aus dem kleinen, blauen Andachtsbuch: Die Tageslosungen der Herrnhuter Brüdergemeine (rpt. Brüdergemeine). Sie erscheinen in einer Auflage von rund 1,3 Millionen Exemplaren und in mehr als 50 Sprachen. Ihre Geschichte begann vor 275 Jahren mit dem frommen Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760). Am 3. Mai 1728 gab der adelige Herr bei einer Abendsingstunde in der für böhmische Glaubensflüchtlinge gegründeten Siedlung Herrnhut/Oberlausitz einen Liedvers als Leitwort für den nächsten Tag aus.

Aus diesem mehr als bescheidenen Anfang ist das wohl meist gelesene Andachtsbuch der Welt entstanden. Die Herrnhuter Losungen gibt es in der Sprache der Inuit ebenso wie in Suaheli, in Japanisch und Zulu sowie neuerdings auch in Litauisch und Türkisch. Allein von der deutschsprachigen Ausgabe gebe es rund eine Million Exemplare, sagt Dorothea Weller, Öffentlichkeitsreferentin der Brüdergemeine in Bad Boll. Die Büchlein sind nicht nur für den persönlichen Gebrauch gedacht, sondern dienen oft als Textbuch für Hausandachten und Predigten. Auch für Ansprachen bei Taufen, Trauungen und Bestattungen werden sie zu Grunde gelegt.

Vorbild für die Bibellosungen war das Militär mit seiner täglich ausgegebenen Parole für einen Tag. Davon ließ sich Reichsgraf von Zinzendorf bei seiner Tageslosung inspirieren. Die anfangs von ihm persönlich ausgewählten Lied- oder Bibelverse sollten den Einzelnen «persönlich treffen und ihm zu Herzen gehen». Sie wurden deshalb in den 32 Häusern Herrnhuts weiter gesagt und besprochen.

In den ersten drei Jahren wurde ein Bibelwort oder ein Liedvers immer nur mündlich ausgegeben, seit 1731 liegen die Losungen schriftlich vor. Schon bald gab es einen weiteren Text dazu. 1812 wurde fest gelegt, dass die Tageslosung einer Auswahl von alttestamentlichen Bibelversen, die Lehrtexte aber immer dem Neuen Testament entnommen werden. Seit 1864 ist ein Bibelleseplan dabei, der in vier Jahren durch das Neue und in sieben Jahren durch das Alte Testament führt.

Herausgeber der Losungen ist die Herrnhuter Brüdergemeine, eine kleine, aus den Böhmischen Brüdern und dem Pietismus entstandene evangelische Freikirche. Sie ist durch ihre weltweite Missionsarbeit und eben über ihre Losungen bekannt geworden.

Die Losungen werden aus 1.830 alttestamentlichen Versen «gezogen» und liegen schon Jahre vor ihrem Erscheinen fest. Für das Losen entschied sich eine General-Synode im Jahre 1764 kurz nach Zinzendorfs Tod. «Es ist ein allgemeiner Wunsch, dass sie ausgeloset und also aus der Hand des Heilands angenommen werden», heißt es im Sitzungsprotokoll. Hinterher werde man dann sehen, wie genau sie auf die jeweiligen Gegebenheiten gepasst hätten.

Diese Treffsicherheit ist in der Tat schon mehrfach aufgefallen. So lautete etwa das - schon Jahre zuvor gezogene - Losungswort am 3. Juli 1990, dem Tage der innerdeutschen Währungsumstellung: «Der Herr macht arm und macht reich».

Die frommen Worte wurden nicht von allen gerne gelesen. In der damaligen DDR, die sich als atheistischer Staat verstand, gab es zwar keine Eingriffe oder Zensuren, allerdings hätten immer wieder einzelne Bibelverse entschärft werden müssen, berichtet der Bischof der Brüdergemeine, Theodor Gill (Herrnhut). So sei am 23. Juni 1972 der Losung «meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr?» eine Anmerkung beigefügt worden, dass mit «Gottlosen» hier nicht Atheisten gemeint seien.

Auch missbräuchliche Verwendungen der Losungen hat es immer wieder gegeben. Erich Ludendorff, der Stratege des Ersten Weltkriegs, hat seine Entscheidungen oft aus den Losungen abgeleitet. «Er hat sie offenbar als Horoskop-Ersatz genommen», bestätigt Dorothea Weller. «Auch eine gute Sache ist halt vor Missbrauch nicht gefeit.»