Dorothee Sölle: Sie fürchtete den Streit nicht

Die unbequeme evangelische Theologin Dorothee Sölle ist im Alter von 73 Jahren gestorben

Von Marion Menne und Burkhard Saul (epd)

Hamburg (epd). Sie war eine Frau, die den Streit nicht fürchtete und seit mehr als 30 Jahren in Politik und Kirche nicht wegzudenken war: Die Hamburger Theologin Dorothee Sölle ist überraschend am Sonntag im Alter von 73 Jahren im baden-württembergischen Göppingen an den Folgen eines Herzinfarktes gestorben. Sie hatte dort mit ihrem Ehemann, dem Theologieprofessor Fulbert Steffensky, an einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll teilgenommen.

Am Samstag abend musste die habilitierte Theologin und Friedensaktivistin in ein Krankenhaus der Stadt eingewiesen werden. Sie starb dort am Sonntag vormittag. Sölle war Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre durch ihre provokanten «Politischen Nachtgebete» in Köln und ihre «Theologie nach dem Tode Gottes» bekannt geworden.

Sie war der Star vieler evangelischen Kirchentage. Ihre Veranstaltungen dort mussten oft wegen Überfüllung geschlossen werden. Ihren letzten Auftritt hatte die renommierte Wissenschaftlerin noch kurz vor ihrem Tod bei der Tagung mit dem Thema «Gott und das Glück» in Bad Boll. Sie trug dort eigene poetische Texte vor.

Die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin, die der Befreiungstheologie nahe stand und zwölf Jahre in New York lebte, spaltete mit ihrer manchmal radikalen Kritik oft die Gemüter. Glück sei das Grundgefühl, das sie trage. Zufriedenheit jedoch wolle sie nicht, denn die sei eine Reduktion der Fähigkeiten, sagte sie in einem Interview. In diesem Sinn ist Dorothee Sölle nicht müde geworden, für soziale Gerechtigkeit, den Schutz der Umwelt und die Sicherung des Friedens zu kämpfen.

Ihr politisches Engagement erklärte die Mutter von vier Kindern in ihrem Buch «Zur Umkehr fähig» mit ihrer Überzeugung, dass Gott kein «allmächtiger Vater», sondern auf die Menschen angewiesen sei. Sölle wehrte sich dagegen, alles Leid «gottgegeben» hinzunehmen. Stattdessen sei es Aufgabe der Christen, aus dem Leiden Kraft zu ziehen und das Veränderbare zu verändern. Die Aufforderung Gottes zum Handeln sah die Theologin in der Bergpredigt.

Dorothee Sölle war in den 70er Jahren prominentes Mitglied der Friedensbewegung. Mit der Organisation der «Politischen Nachtgebete» in Köln zog sie die Kritik der katholischen wie der evangelischen Kirche auf sich. Nach ihrer Aufsehen erregenden Rede vor der Vollversammlung des Weltkirchenrates im kanadischen Vancouver 1983 distanzierte sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) offiziell von der Professorin.

Sölle hatte der europäischen und nordamerikanischen Kirche «Militarismus» und «Apartheidstheologie» gegenüber der Dritten Welt vorgeworfen. Bis zu ihrem Tod zog die unbequeme Theologin bei ihren Auftritten viele Menschen an. Ihr letztes Werk allerdings konnte sie nicht mehr vollenden. Ihr Buch «Mystik des Sterbens» konnte sie nicht mehr vollenden.


Nachruf von Robert Leicht (Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin)

Fromme Menschen sind radikal

Politik im Geist des Evangeliums: zum Tode der Theologin, Poetin und Friedensaktivistin Dorothee Sölle

Von Robert Leicht

Wenn man von einer Person sagt, sie sei umstritten gewesen, dann klingt das noch im Respekt wie eine Distanzierung. Aber wenn man von einem Theologen – oder eben einer Theologin – sagt, sie sei nicht umstritten gewesen, dann kann man auch gleich sagen: Er oder sie sei gar kein Theologe, keine Theologin gewesen.

Dorothee Sölle, die am gestrigen Sonntag im Alter von 73 Jahren gestorben ist, war immer beides auf legitime Weise gewesen, Theologin und umstritten. Wer Gottes Wort in dieser Welt weitersagt, kann gar nicht anders leben als in zwei Dimensionen: im Zuspruch wie im Einspruch. Und wer, wie Dorothee Sölle in einem ihrer bekanntesten Bücher über die „Stellvertretung – Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“ (1965), also über die Nachfolge Jesu schreibt, der muss auch im Widerspruch leben. Zumindest im Widerspruch zu den Mächtigen und Selbstzufriedenen und Bequemen. (Übrigens auch im Widerspruch zu ebenso anerkannten Theologen, die ihre Vorstellung der ‚Stellvertretung' nicht ganz ohne Grund auch kritisch betrachteten.)

Und erst recht muss im Einspruch und im Widerspruch leben, wer die politischen Dimensionen der Nachfolge Jesu sichtbar macht, zum Beispiel in den zu Recht schon kirchengeschichtlich berühmt gewordenen „Politischen Nachtgebeten“, die Dorothee Sölle mit ihrem Mann, dem vormaligen Benediktinermönch Fulbert Steffensky konzipiert hatte, in Köln, vordem. Aber wer die Politik aus den Folgen des Evangeliums heraushalten will, der betreibt beides – schlechte Politik und das falsche Evangelium.

In Köln ist sie auch geboren, am 30. September 1929, als Tochter des Arbeitsrechtlers Hans Carl Nipperdey. Nach dem Krieg studiert Sölle in der Stadt am Rhein sowie in Freiburg und Göttingen Theologie, unterrichtet im höheren Schuldienst, macht sich in den Sechzigerjahren als Schriftstellerin einen Namen. Und als Feministin, Ökologin, Friedenskämpferin. Sie besucht Nordvietnam und Nicaragua, protestiert gegen den Nato-Doppelbeschluss zur Nachrüstung und blockiert Mutlangen. In den Achtzigern lehrt sie Systematische Theologie in New York, plädiert nach dem Fall der Mauer für eine langsame Gangart der Wiedervereinigung, tritt 1995 in den Ost-PEN ein, veröffentlicht ihre Erinnerungen unter dem Titel „Gegenwind“ und engagiert sich für das Asylrecht. Zuletzt kritisierte sie vor einem Jahr den Afghanistan-Krieg und George W. Bushs Außenpolitik nach dem 11. September, in einem gemeinsamen Aufruf mit Intellektuellen wie Carl Amery, Walter Jens und Günther Wallraff.

Dorothee Sölle also war streitbar, aber das aus schlichter Frömmigkeit. Es ist ja oft so, dass ganz fromme Menschen ganz radikal sind. Manchmal wünschte man sich, das müsste nicht immer so sein. Aber noch mehr wünschte man sich, dass die Kritiker dieser Frommen nicht so von Hass erfüllt wären. Dorothee Sölle war von sehr vielen bewundert worden, ihre Bücher, darunter „Welches Christentum hat Zukunft?“ (1990) sowie „Mystik und Widerstand“ (1997) wurden von sehr vielen aufmerksam gelesen. Aber die ja immer auch berechtigte Kritik am Wirken eines jeden von uns ist ihr gegenüber so oft umgeschlagen in heftige Ablehnung, in die Verweigerung der Anerkennung, dass manche sich dessen schämen sollten, was sie ihr in frühen Jahren angetan und vorenthalten haben. Eine Ablehnung, die immer wieder nicht nur der Theologin, sondern auch der selbstbewussten Frau entgegenschlug.

 „Religion lehrt sterben. Wir wohnen kurz auf geliehener Erde“, sagte sie einmal. Am Wochenende hatte die linke Christin an einem Seminar der Evangelischen Akademie Bad Boll teilgenommen. Dort erlitt sie einen Herzinfarkt und starb nun in einer Göppinger Klinik. Dass Dorothee Sölle nicht nur eine Pionierin der politischen Theologie war, sondern auch der Frauen in der Theologie – dafür gebührt ihr bleibende Dankbarkeit.

Quelle: Tagesspiegel vom 28. April 2003