"Irak-Krieg weckt die vergessenen Kindheitsängste"

Altersforscher beobachtet Ohnmachts-Gefühle bei vielen Senioren

Von Ulrike Millhahn

Hannover/Kassel (epd). Immer mehr ältere Deutsche kämpfen seit Beginn des Irak-Krieges mit ihren längst vergessen geglaubten Kindheitserinnerungen an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. "Die alten, vertrauten und gefürchteten Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht sind plötzlich bei vielen wieder da", sagt der bekannte Kasseler Altersforscher Professor Hartmut Radebold. Der 67-jährige Psychoanalytiker untersucht seit vielen Jahren die Folgen der Kriegskindheit für die heute 60- bis 70-Jährigen.

"Ich beobachte zum ersten Mal, dass ungewöhnlich viele Ältere auf die Straße gehen und öffentlich protestieren", sagt Radebold. Vor zwölf Jahren im Golf-Krieg sei dies anders gewesen. Damals gehörten die Senioren noch zur mittleren Generation und waren in Familienleben und Arbeitswelt eingebunden. Debatten über den von den Vereinten Nationen seinerzeit legitimierten Golf-Krieg fanden eher im Familien- und Freundeskreis statt. Der jetzige Krieg werde dagegen in Deutschland öffentlich als ungerecht verurteilt. Die kriegskritischen Senioren stimmen so mit der Mehrheit der Bevölkerung überein.

Er habe in den vergangenen zwei Wochen erstaunlich viele Rückmeldungen von älteren Menschen erhalten: "Gut verdrängte Erinnerungen an Bombennächte, Vertreibung, Hunger und Kälte werden ganz plötzlich wieder aktiviert", sagt Radebold. Viele so Betroffene seien dadurch tief beunruhigt und erneut verängstigt. In manchen Städten gründeten sie Selbsthilfegruppen, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen.

In einer aktuellen repräsentativen Untersuchung der Universität Leipzig wurde jetzt festgestellt, wie belastend die Erlebnisse von Ausbombung oder Flucht für die Kinder und Jugendlichen im Kriegsdeutschland waren. Zu den Auswirkungen, die auch 50 Jahre später noch zu erkennen sind, gehören Ängste, Depressionen, Beziehungsstörungen: Die Lebensqualität ist insgesamt eingeschränkt.

Die Kriege des 20. Jahrhunderts haben weitreichende psychosoziale Folgen hinterlassen und das Verhalten vieler Menschen lebenslang beeinträchtigt, heißt es weiter. Von Kriegen betroffene Heranwachsende brauchten dringend materielle und psychologische Hilfestellungen: "Sonst lassen sich Jahrzehnte später wiederum derartige schwerwiegende Folgen beobachten, von ihrer Weitergabe an die nächste Generation ganz zu schweigen", lautet das Fazit der Studie.

Nach Schätzungen von UN-Experten ist damit zu rechnen, dass rund eine halbe Million Kinder im Irak durch den Krieg deutlich traumatisiert werden. Wie verheerend die Folgen tatsächlich sein werden, hängt entscheidend von der Dauer des Krieges ab, sagt Radebold: "Wir können nur hoffen, dass die Großfamilien, die anwesenden Väter und eine spätere sichere Versorgung einen gewissen Schutz bieten und die Kinder vor dem Schlimmsten bewahren.