Autobahnkirchen: Ausfahrt zur Seelen-Tankstelle

Von Rieke C. Harmsen (epd)
München (epd). «Auf der Fahrt ins Zillertal, beschütze uns alle und lass uns gesund nach Hause kommen» - mit dieser Bitte haben sich Franz, Ramona, Denis und Selina in das dicke Buch eingetragen, das in der Adelsrieder Autobahnkirche ausliegt. Die Kirche an der A8 zwischen Stuttgart und München war die erste Autobahnkirche Deutschlands und stammt aus den fünfziger Jahren.

Inzwischen gibt es 20 Autobahnkirchen in Deutschland, und die Besuchszahlen zeigen, wie attraktiv diese für die Reisenden sind. So wird die katholische Christopherus-Kirche am Rasthof Baden-Baden eigenen Angaben zufolge jährlich von rund 300.000 Gästen besucht, die Himmelkroner Kirche bei Bayreuth zählt über 100.000 Besucher, und die evangelische «Feininger»-Kirche Gelmeroda bei Weimar rund 50.000 Gäste jährlich.

«Der Reiz an den Autobahnkirchen ist ihre Anonymität und die Möglichkeit, einen Augenblick inne zu halten und Ruhe zu genießen», meint Birgit Krause, Mitarbeiterin der Akademie der Bruderhilfe-Familienfürsorge, die jedes Jahr eine Konferenz für alle Autobahnkirchenpfarrer finanziert und organisiert. Für das Versicherungsunternehmen sind die Autobahnkirchen auch eine Präventionsmaßnahme in puncto Verkehrssicherheit: Schließlich, so Krause, würden Autofahrer nach einer Pause konzentrierter und entspannter weiter fahren.

Neben einem Verzeichnis aller Autobahnkirchen, das gerade bei der Bruderhilfe-Akademie erschienen ist (Tel.: 0561/7881-397 oder www.bruderhilfe.de), hat der Diplom-Theologe Gereon Vogler, Geschäftsführer der Viersener Werbeagentur Choros, die Kirchen unter www.autobahnkirchen.de auch ins Internet gestellt. «Ich bin früher viel getrampt und habe mich gewundert, wie viel man dabei über Gott und die Welt reden kann», erzählt Vogler. Er habe sich deshalb damals dazu entschlossen, seine Diplomarbeit über Autobahnkirchen und -kapellen zu schreiben.

Auf den Autobahnen machen die Menschen Vogler zufolge eine besondere psychologische Erfahrung. Während das Fahren auf Landstraßen «lustbetont» sei, ginge es auf Autobahnen um «jagen und gejagt werden». Die Autobahnkirchen würden die dabei zu kurz gekommenen Bedürfnisse der Menschen nach Geborgenheit und Angenommensein erfüllen. «Hier können sie sich konzentrieren auf das Wesentliche, erleben eine ruhige Stimmung und sind für einen Moment vom Lärm abgeschirmt», so Vogler.

Die über 30 Eintragungen eines einzigen August-Tages in der Baden-Badener Christopherus-Kirche zeigen, dass sich auch kirchenferne Gäste von den Kapellen und Kirchen am Straßenrand angezogen fühlen. «Ich bin nie in der Kirche, aber hier fühle ich mich wohl», schreibt ein Reisender. Ein anderer Gast hat in dem Buch seine persönliche Leidensgeschichte notiert: «Mein bester Freund verstarb ganz plötzlich, man fand ihn tot. Ich verlor meine Arbeit. Meine Frau und meine Tochter verließen mich - und wollen keinen Kontakt mehr mit mir haben! Mein Eigenheim musste ich verkaufen. Dann starb meine Mutter. Lieber Gott warum?»

Das Spektrum der Einträge in den Büchern umfasst «lustige und traurige Geschichten, neckische und blöde», so die Erfahrung von Pfarrer Rainer Berlich, der die evangelische Autobahnkirche Gelmeroda bei Weimar betreut. In dem spitztürmigen Bau, zentrales Bildmotiv des Künstlers Lionel Feininger, finden - wie in den meisten Autobahnkirchen - regelmäßig Gottesdienste statt.

Gut angekommen ist Berlich zufolge vor allem die Lichtinstallation, bei der mit Hilfe von Scheinwerfern die Kirche selbst zu einem Gemälde Feiningers werde. Ob Gottesdienst, Gästebuch oder Kerzenlicht - die große Chance der Autobahnkirchen ist nach Berlich aber vor allem die Tatsache, dass sie ein «Ort der Begegnung» sind, der Tag und Nacht geöffnet hat.