"Warum so wenig Loyalität?" - Eine protestantische Untugend

Hermann Barth (Hannover) Die Kirche darf kritisiert werden. Die Kirche hat es nötig, kritisiert zu werden. Das geschieht reichlich von außerhalb der Kirche. Das geschieht – jedenfalls im Protestantismus – noch reichlicher von innerhalb der Kirche. Aber wer Kirchenmitglied ist, sollte sich auch überlegen, womit er seiner Kirche am meisten dient. Es gibt nur wenige kirchliche Äußerungen oder Aktionen, die rundum gelungen sind. Das Normale ist, dass man auch als Kirchenmitglied – und vor allem als Theologe – an der einen oder anderen Stelle etwas zu bemängeln hat. Auf diesen Sachverhalt kann man in ganz unterschiedlicher Weise reagieren: Man kann die starken Seiten der Äußerung oder Aktion hervorkehren und unterstützen und auf diese Weise aus der Sache das Bestmögliche machen. Man kann sich aber auch auf die Schwachstellen stürzen, sie öffentlich vorführen und sich auf Kosten der eigenen Kirche profilieren. Diese Profilierung gegen die eigene Kirche ist eine protestantische Untugend. Im Protestantismus gibt es leider Gottes zu wenig Loyalität gegenüber der eigenen Kirche. Seit Jahrzehnten lässt sich dies bei jeder Veröffentlichung einer Denkschrift der EKD bis zum Überdruss beobachten. Das Interesse mancher Protestanten richtet sich keineswegs darauf, die öffentlichen Äußerungen ihrer Kirche für die Gemeinde und für die Öffentlichkeit zu dolmetschen, sie durch Interpretation und Verdeutlichung stark zu machen und auf diese Weise offensiv zu vertreten. Mit Wonne konzentriert man sich auf diejenigen Aspekte, die kritikwürdig und verbesserungsbedürftig sind. Die Botschaft heißt: “Das Ganze ist unter Niveau.” “Ich schäme mich für meine Kirche.” “Ich distanziere mich von meiner Kirche.” Die in einer großen Tageszeitung veröffentlichte Tirade eines evangelischen Theologieprofessors gegen den “Assimilationswillen” der Kirche läuft auf folgenden Appell zu: “Liebe evangelische Kirche: Sorge dafür, dass deine Pfarrer ‚glaubwürdige’ Menschen bleiben oder werden können.” Ist der Professor nicht selbst ein Glied dieser Kirche? Ist er nicht selbst ein Lehrer künftiger Pfarrer gewesen? Das jüngste Beispiel ist die EKD-Initiative 2002, bei der mit bildlichen Motiven und plakativen Fragen das Gespräch über den Glauben und mit der Kirche in Gang gesetzt werden soll. An vielen Orten werden die Chancen dieser Kampagne mit großem Engagement und kreativen Ideen genutzt. Andere konzentrieren sich darauf, ihre kritischen Anfragen in die Öffentlichkeit zu tragen und die ganze Sache madig zu machen. Sie erreichen damit zweierlei: In der Berichterstattung der Medien wird nicht nur die Kampagne selbst, sondern auch die innerkirchliche Kritik an ihr zum Thema. Für die Öffentlichkeit entsteht der Eindruck, die evangelische Kirche sei mit sich selbst uneins und wisse wieder einmal nicht so genau, was sie wolle. Noch einmal – die öffentlichen Äußerungen der evangelischen Kirche und ihr öffentliches Auftreten, auch die EKD-Initiative 2002, sind unvollkommen. Es geht mir nicht darum, Kritik zu unterdrücken. Sie ist lebensnotwendig. Aber es kommt darauf an, wann, in welchem Kontext und in welchem Ton sie vorgetragen wird. Ich kann und will auch nicht bestreiten, dass es Situationen gibt, in denen jede Rücksichtnahme auf die eigene Kirche aufgegeben und um der Wahrheit willen ein öffentlicher Widerspruch angemeldet werden muss. “Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.” Aber eine Inflationierung dieser Haltung beraubt sie früher oder später ihrer Kraft. (Der Autor, Vizepräsident Dr. Hermann Barth, Hannover, ist Theologischer Leiter des Kirchenamtes der EKD) (idea)