"Mehr Mut zu Reformen"

Spiegel-Interview mit dem EKD-Ratsvorsitzenden zu "Hartz IV"

16. August 2004


S P I E G E L - G E S P R Ä C H

"Mehr Mut zu Reformen"

Bischof Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland,
über Notwendigkeit und Mängel von Hartz IV,
die Unsensibilität von Politikern und Managern und ein gerechteres Steuersystem

Spiegel: Bischof Huber, in Leipzig gehen die Demonstrationen gegen Hartz IV von der evangelischen Kirche aus – wie im Herbst 1989. Findet das Ihre Zustimmung?

Huber: Die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche pausieren im Augenblick, die Proteste sind im Moment nicht daran gekoppelt.

spiegel: Aber der Begriff „Montagsdemo“ erinnert bewusst an den Sturz des DDR-Regimes. Kann man Proteste gegen eine Diktatur und gegen ein demokratisch beschlossenes Reformgesetz auf eine Stufe stellen?

Huber: Dass die Menschen auf die Straße gehen, ist vollkommen legitim. Wenn sie es am Montag tun, tun sie es am Montag. Wenn sie es Montagsdemonstration nennen, muss man das hinnehmen. Trotzdem haben wir jetzt eine völlig andere Situation als 1989. Es geht nicht um einen Aufstand gegen ein undemokratisches System, sondern es geht um eine Reformdebatte innerhalb der Demokratie und um die Sorgen, die Menschen angesichts möglicher Folgen haben.

spiegel: Der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, hat gesagt, die kapitalistische Marktwirtschaft sei nicht in der Lage, die Probleme der Menschen zu lösen.

Huber: Das ist ein vollkommen richtiger Satz. Doch wir müssen hinzufügen, dass wir in einer sozialen Marktwirtschaft leben und leben wollen. Die Frage ist nun, ob die soziale Rahmensetzung unserer Marktwirtschaft noch funktioniert. Ob Belastungen im Veränderungsprozess gerecht verteilt werden. Ob man sich in einer Welt noch zurechtfinden kann, in der sich auf der einen Seite Vorstände großer Konzerne verschwören, ihre Bezüge geheim zu halten, und auf der anderen Seite ältere Arbeitslose den letzten Cent ihres Lebensversicherungsbetrags offen legen müssen.

spiegel: Was folgern Sie daraus?

Huber: Ich sehe eine große Diskrepanz. Wenn man will, dass der Reformprozess gelingt, dann sind die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft in besonderer Weise verpflichtet, Glaubwürdigkeit zu zeigen und Vertrauen zu wecken.

spiegel: Die evangelische Kirche steht also in Treue fest zu den Demonstranten und verdammt die Reformen?

Huber: So einfach ist das nicht. Natürlich stehen wir den Menschen zur Seite, die Sorgen um elementare Zukunftsfragen haben. Übrigens auch, wenn sie Opfer unzureichender Informationen sind. Aber wir wollen gleichzeitig, dass unser Sozialstaat zukunftsfähig gemacht wird. Unsere Kirche sagt: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Mut zu Reformen.

spiegel: Konkret: Ist Hartz IV die richtige Politik?

Huber: Im Ansatz ist das ein notwendiger Schritt. Es ist nachvollziehbar, dass man steuerfinanzierte Leistungen für Menschen, die nicht in Arbeit sind, zusammenführt und deshalb Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe verknüpft.

spiegel: Sie finden es also in Ordnung, wenn Menschen ohne Arbeit künftig weniger Geld bekommen.

Huber: Ich weiß, dass Menschen, die aus einem relativ hohen Verdienst kommen, solche Einschnitte als sehr schmerzlich empfinden. Aber ich sage: Ein gewisser Abstieg wird unvermeidlich sein, wenn man eine solche steuerfinanzierte Leistung überhaupt haben will.

spiegel: Ein Arbeitslosengeld II mit einer Regelleistung von 345 Euro (West) oder 331 Euro (Ost) plus Wohn- und Heizgeld ist demnach genug?

Huber: Auch wenn es für Menschen, die aus einem vorher besseren Lebensstandard kommen, nur schwer akzeptabel ist: Als Grundsicherung wird das zurzeit ausreichen müssen.

spiegel: Die Demonstranten sehen das anders. Auf ihren Druck hat die Regierung inzwischen reagiert. Die so genannte Auszahlungslücke wurde geschlossen.

Huber: Das war überfällig. Es war arrogant zu sagen: Im Januar gibt es kein Arbeitslosengeld II, dafür bekommt ihr aber in dem Monat noch eine Zahlung, in dem ihr eine Arbeit aufgenommen habt. Viele Betroffene haben schließlich die Sorge, nie wieder einen Arbeitslohn zu erhalten. Ein solches Versprechen wirkte auf die Menschen nicht tröstlich, sondern höhnisch. Die Kritik ist aber auch in anderer Hinsicht sehr berechtigt.

spiegel: Zum Beispiel?

Huber: Nehmen Sie die Frage der Anrechnungstatbestände. Wenn wir fordern, dass Menschen für ihr Alter Vorsorge treffen, dann muss man spüren können, dass diese Ermunterung, die da über Jahr und Tag unter dem Stichwort Riester-Rente ausgesprochen wurde, wirklich ernst genommen wird.

spiegel: Lebensversicherungen und andere Vorsorgeinstrumente müssen also „hartzfest“ gemacht werden?

Huber: Genau. Wenn man sich überdies klar macht, dass derjenige, der vor dem 1. Januar 1948 geboren ist, mehr als doppelt so viel anrechnen kann wie jemand, der später geboren ist, dann finde ich das unsensibel. Die Regelung muss einfach flexibler werden – das gilt übrigens auch für die 400-Euro-Jobs …

spiegel: … mit denen sich Arbeitslose bisher Geld zur Arbeitslosenhilfe hinzuverdienen konnten. Künftig dürfen die Betroffenen aus solchen Jobs nur noch 60 Euro behalten.

Huber: Ich appelliere dringend, diese Regelung zu ändern. Denn wir wollen doch gerade, dass Arbeitsuchende ihre Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft erhalten. Erleichterungen bei den Zuverdienstmöglichkeiten halte ich deshalb für einen praktikablen und wünschenswerten Schritt.

spiegel: Mit Verlaub, die Reformen sind im Detail seit Monaten bekannt. Haben die Kirchen zu lange geschwiegen?

Huber: Ich habe schon seit über einem Jahr in jeder Äußerung zur Agenda 2010 deutlich gesagt, an welchem Punkt ich die allergrößten Sorgen habe: bei den Auswirkungen auf ältere Langzeitarbeitslose. Diese Menschen fühlen sich in ihrer Biografie, die ja mit langem Einzahlen in die Sozialversicherungen und in der Regel unverschuldeter Arbeitslosigkeit verbunden ist, bestraft.

spiegel: Und warum gibt es erst jetzt die große öffentliche Reaktion?

Huber: Seit dem 19. Juli haben wir eine veränderte Situation, weil die Menschen nun den Fragebogen auf den Tisch bekommen. Jetzt haben sie vor Augen, dass sie beim Ausfüllen darüber entscheiden, wie ihre persönliche Lebenssituation vom 1. Januar an aussieht. Lesen Sie nur einmal die Einleitung des Fragebogens. Da ist allein vom Fordern die Rede – vom Fördern kein Wort.

spiegel: Fehlt in den Reformdebatten die Vision, die den Menschen den Sinn aller Einbußen erklärt?

Huber: Wir wollen auch in Zukunft ein Gemeinwesen sein, das die Grundsicherung der Menschen bei Arbeitslosigkeit, bei Krankheit, bei Alter tatsächlich gewährleistet. Und wir wollen, dass auch die nächste Generation das alles finanzieren kann. Ich habe es für falsch gehalten, dass man dieses Ziel nicht eindeutiger in den Vordergrund gestellt hat.

spiegel: Haben Sie eine Erklärung für dieses Versäumnis?

Huber: Die Verantwortlichen stecken offenkundig so sehr in den Einzelproblemen, dass sie für die Gesamtperspektive nicht den nötigen Sinn entwickelt haben.

spiegel: Bei aller Kritik im Detail – wir halten fest: Hartz IV ist für den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland eine gute Sache.

Huber: Könnten wir die Arbeitslosenhilfe als selbständige Säule unseres sozialen Sicherungssystems erhalten? Ich sehe derzeit nirgendwo einen Vorschlag, wie das gehen soll. Mir ist deutlich geworden, dass eine steuerfinanzierte Grundsicherung der richtige Weg ist.

spiegel: Man erwartet die Kirche auf der Seite der Armen und Ausgegrenzten.

Huber: Dass Armen geholfen wird, ist ein Gesetz der Nächstenliebe. Dazu stehen wir; und das praktizieren wir. Aber Nächstenliebe gilt nicht nur dem, der jetzt in Not ist. Wir müssen auch die Fähigkeit haben, dem, der übermorgen in Not ist, beistehen zu können. Ich habe außerdem keinen Grund, eine Rückkehr zum alten System zu fordern, wenn ich selber nicht erklären kann, wie man das finanzieren soll. Aber Härten müssen abgemildert und der Übergang muss menschenfreundlich gestaltet werden.

spiegel: Lässt sich die Notwendigkeit von Reformen im Gestrüpp von Hartz IV und Praxisgebühr überhaupt noch vermitteln?

Huber: Wir müssen es versuchen. Deswegen mein Werben um substanzielle Veränderungen, mein Werben darum, das Fördern, das Vermitteln, das Begleiten der Menschen tatsächlich überzeugend zu praktizieren. Die Menschen müssen am Ende sagen können: Vieles an dem, was sich jetzt entwickelt, passt mir nicht, aber dass der Staat sich kümmert, das merke ich tatsächlich.

spiegel: Warum wird Hartz IV dennoch von vielen als ungerecht empfunden?

Huber: Man darf die aktuellen Einschnitte nicht mit steuerpolitischen Maßnahmen kombinieren, die die Wohlhabenden noch günstiger stellen. Die Betroffenen sehen darin ein elementares Gerechtigkeitsproblem. Deswegen gehen sie auf die Straße.

spiegel: Sie sind gegen eine weitere Stufe der Steuerreform?

Huber: Ich wehre mich gegen eine weitere Entlastung der Spitzensteuerzahler. Sympathie für näher aneinander gerückte Steuersätze habe ich nur dann, wenn gleichzeitig Schlupflöcher für die Besserverdienenden geschlossen werden.

spiegel: Der Staatsrechtler Paul Kirchhof fordert, die Ausnahmetatbestände konsequent zu streichen.

Huber: Er hat Recht. Die Spitzensteuerdebatte hatte bislang ja einen eher fiktiven Charakter: weil die Betroffenen – wie soll ich mich jetzt höflich ausdrücken – die Spitzensätze nicht gerade in sehr vielen Fällen auch tatsächlich bezahlt haben. Um es klar zu sagen: Es geht nicht darum, Sozialneid zu schüren. Es geht um die Frage der sozialen Ausgewogenheit.

spiegel: Ihr Engagement für hohe Steuersätze hat tatsächlich doch einen ganz anderen Grund.

Huber: Und der wäre?

spiegel: Die Kirchensteuer wird nach der Höhe von Lohn- und Einkommensteuer berechnet. Wenn deren Sätze weiter fallen, sinken Ihre Einnahmen.

Huber: Ich habe schmerzlich erlebt, was staatliche Steuerreformen für die Finanzsituation der Kirche bedeuten. Deswegen habe ich auch ein besonderes Sensorium dafür entwickelt, dass an einer bestimmten Stelle mit der Verlagerung von den direkten Lohn- und Einkommensteuern auf indirekte Verbrauchsteuern Schluss sein muss. Aus Gründen der Gerechtigkeit, aber auch, um die Handlungsfähigkeit der Kirchen nicht weiter zu beeinträchtigen.

spiegel: Wollen Sie damit sagen, dass die Kirchen die Reformpolitik der Regierung ausbaden müssen?

Huber: Allein im Bereich der Kinderarmut kommen womöglich massive Konsequenzen auf uns zu. Bereiche wie Jugendhilfe oder Suchtberatung haben mit Kürzungen zu kämpfen. Nur: Wir können nicht alles ausgleichen. Wir sind an den Grenzen unserer Möglichkeiten.

spiegel: Brauchen wir ein neues Gesellschaftsbild? Wird die Solidargemeinschaft durch Eigenverantwortung ersetzt?

Huber: Solange wir beides gegeneinander ausspielen, kommen wir keinen Zentimeter weiter. Das jeweils mögliche Maß an Eigenverantwortung ist eine Bedingung für Solidarität. Jeder von uns muss sein Möglichstes tun, nur das setzt Kräfte frei, für die Ärmsten zu sorgen. Das setzt aber voraus, dass diejenigen mit den kräftigsten Muskeln auch besonders viel zur Solidarität beitragen.

spiegel: Könnte es nicht umgekehrt sein, dass der Sozialstaat bisher die falschen Anreize gesetzt und Menschen dadurch abgehalten hat, selbst für sich zu sorgen?

Huber: Ein Gemeinwesen, das sich lang anhaltende Arbeitslosigkeit leistet, reizt dazu an. Wenn man das abschaffen will, muss man zuallererst mehr Möglichkeiten schaffen, selbst Verantwortung zu übernehmen, sich selbst einzubringen. Menschen können aus dem, was gemeinerweise „soziale Hängematte“ genannt wird, nur herausgeholt werden, wenn es auch wirklich Möglichkeiten zu arbeiten gibt.

spiegel: Wird der Sozialstaat in etlichen Fällen nicht einfach ausgenutzt?

Huber: Niemand entzieht sich freiwillig der Möglichkeit von Eigenverantwortung und Erwerbsarbeit. Ich finde es einfach unfair, das in einer generellen Weise zu unterstellen.

spiegel: Sozialmissbrauch, sagen Sie, ist praktisch ein individuelles Phänomen …

Huber: … wenn es ein generelles Phänomen ist, dann hat es gesellschaftliche Ursachen. Wenn man die durch vernünftige Reformen, durch Arbeitsförderung, durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik und aktive Politik der Zuverdienstmöglichkeiten, auch der Weiterqualifizierung minimiert, dann ist das, was übrig bleibt, in der Hauptsache ein individuelles Problem. Das kann man dann auch einzelfallbezogen regeln.

spiegel: In Ruhrgebietsstädten wie Gelsenkirchen, wo die Arbeitslosigkeit ostdeutsches Niveau erreicht, gehen nur ein paar hundert Leute auf die Straße, in Magdeburg oder Leipzig sind es schon mehr als 10 000. Warum?

Huber: Im Osten gab es die Hoffnung, dass es nach den wirtschaftlichen Umbrüchen und einer langen Durststrecke wieder aufwärts geht – dass nach dem Wegbrechen alter Industrien neue Wirtschaftszweige entstehen. Die Kürzung der staatlichen Unterstützung wird deshalb als zusätzliche Demütigung empfunden.

spiegel: Ende des Monats sollen in der Nikolaikirche im Zusammenhang mit den Montagsdemonstrationen die Friedensgebete wieder beginnen. Gebete, unter anderem, gegen Hartz IV?

Huber: Das Gebet gehört zu den absolut unzensierten Redeformen. Es ist niemals nur gegen etwas gerichtet. Eine Grundform des christlichen Gebets ist die Fürbitte. Niemand sollte denken, dass man ein Problem schon gelöst hat, wenn man sagt, was man nicht will.

spiegel: Bischof Huber, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Quelle: Spiegel vom 16. August 2004 (Nr. 34/2004)