"Stachel im Fleisch" und Ort der Begegnung

Vor 50 Jahren hat die EKD die Versöhnungskirche Dachau eingeweiht

29. April 2017

Die Versöhnungskirche in Dachau. (Foto: epd-Bild/Michael McKee)
Die Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau wurde nach einem Entwurf des Mannheimer Architekten Helmut Striffler gebaut. (Foto: epd-Bild/Michael McKee)

Eigentlich dachten die Protestanten knapp 20 Jahre nach Kriegsende nur an ein schlichtes Sühnekreuz als Ort des Innehaltens in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Zu groß war die Scham über das weitgehende Versagen der Amtskirche im Nationalsozialismus. Dass daraus ein Gotteshaus mit Kirche und Gesprächsraum wurde, war selbst schon ein Akt der Versöhnung.

Eine Gruppe niederländischer Dachau-Überlebender um den Widerstandskämpfer Dirk de Loos ging auf die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zu. Ihr Wunsch: Ein Ort der Besinnung, geschützt vor Regen und Kälte, an dem Begegnung möglich ist.

Versöhnungskirche als Zufluchtsort und Versteck

Also schrieb die EKD 1964 einen Architekten-Wettbewerb für eine Sühnekirche aus, den ein unbekannter Mannheimer Architekt mit einem spektakulären Entwurf für sich entschied. Der 37-jährige Helmut Striffler plante die Versöhnungskirche als Zufluchtsort und Versteck: Halb in den Boden geduckt, mit unebenen Wänden, schiefen Ebenen und stumpfen Winkeln, mit einer breiten Freitreppe, die hinabführt in die Tiefe von Erinnerung und Scham, und einem Fluchtweg durch die Hintertür.

"Eine Kirche auf einem ehemaligen KZ-Gelände sollte keine Sackgasse sein", fand der 2015 verstorbene Striffler. Am 30. April 1967 übergab der damalige stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende Kurt Scharf die Schlüssel der Versöhnungskirche an den bayerischen Landesbischof Hermann Dietzfelbinger. Die erste Predigt hielt der Dachau-Überlebende Martin Niemöller.

Im Erinnern die Grenzen überschreiten

Der Bau der Versöhnungskirche sei 1967 ein "Meilenstein" gewesen, sagt Pfarrer Björn Mensing, der 2005 an die evangelische Gedenkkirche in Dachau kam. In den ersten Jahren nach 1945 sei es üblich gewesen, dass Organisationen nur an die eigenen Opfer erinnerten. Ein separates Gedenken führe aber dazu, dass Abgrenzungen verstärkt werden: "Erst wenn man im Erinnern die Grenzen überschreitet, kann man Feindbilder überwinden", sagt der Theologe und promovierte Historiker Mensing.

Durch den Bau der Versöhnungskirche habe überdies die Auseinandersetzung mit den kirchlichen Verstrickungen in der NS-Zeit erst begonnen, sagt Mensing, der in Bayern landeskirchlicher Beauftragter für evangelische Gedenkstättenarbeit ist. Diese selbstkritische Sicht sei damals im deutschen und bayerischen Protestantismus nicht mehrheitsfähig gewesen. "Die Versöhnungskirche war da ein Stachel im Fleisch", resümiert Mensing.

Vollblut-Seelsorger in der Versöhnungskirche

An der Gedenkkirche wirkten Pfarrer wie Christian Reger und Hans Ludwig Wagner, die selbst Opfer der Nazis geworden waren und den schwierigen Anfängen der Erinnerungsarbeit Autorität verliehen: Reger erlitt als Häftling Nummer 26661 im "Pfaffenblock" von Dachau vier Jahre lang den Terror des KZ. Wagner floh, als "Volljude" eingestuft, 1938 nach Kanada.

Von 1985 bis 2003 kamen Vollblut-Seelsorger an die Versöhnungskirche: Waldemar Pisarski, Heinrich Bauer und Peter Klentzan begleiteten die wachsende Zahl an Besuchern, scheuten keine politische Auseinandersetzung und ermutigten Zeitzeugen wie Max Mannheimer und Walter Joelsen, ihr Schicksal zu erzählen.

"Namen statt Nummern"

Markenzeichen der Versöhnungskirche war und ist es, unbequem zu sein. 1993 gewährte die Kirche bei der "Romazuflucht" rund 400 ausreisepflichtigen Menschen aus Ex-Jugoslawien vorübergehenden Schutz. Auch der "Rosa Winkel", das damals auf der Gedenkstätte unerwünschte Mahnmal für homosexuelle NS-Opfer, fand hier für einige Jahre einen Standort. "Es ist immer noch unser theologischer Auftrag, an die bis heute vergessenen NS-Opfer zu erinnern, zum Beispiel an die als sogenannte Asoziale oder Berufsverbrecher stigmatisierten Menschen", sagt Pfarrer Mensing.

Eine Herausforderung der vergangenen Jahre war die schwindende Zahl von KZ-Überlebenden. Die Erinnerungsarbeit brauchte ein neues Konzept. Pfarrer Mensing und Diakon Klaus Schultz pflegen heute enge Kontakte zu den verbliebenen Zeitzeugen und deren Angehörigen, fördern in Kooperation mit dem Gedächtnisbuch-Projekt "Namen statt Nummern" vergessene Häftlingsbiografien zu Tage und führen Jahr für Jahr rund 7.000 Besucher über das Gelände.

Susanne Schröder (epd)