Für ein solidarisches Europa

Zum 60. Jubiläum der Römischen Verträge

25. März 2017

Fahnen der euopäischen Länder. (Foto: epd-Bild/Thomas Ruffer)
Die Flaggen der EU-Staaten vor dem Gebäude des Europaparlaments im französischen Straßburg. (Foto: epd-Bild/Thomas Ruffer)

Vor 60 Jahren, am 25. März 1957, wurde mit den Römischen Verträgen der Grundstein für die Europäische Union gelegt. Die Erfolgsgeschichte, die damals begann, ist ins Stocken geraten. Doch eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts (SI) der EKD zeigt, dass sich die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung durchaus als Europäer versteht und die bedeutenden Erfolge der EU würdigt. Die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen wünscht sich demnach ein sozialeres Europa und befürwortet Reformen in der Richtung. Andreas Mayert vom SI der EKD hat die Ergebnisse der repräsentativen Befragung analysiert.

Im September 2016 wurde vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SI) in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid eine repräsentative Befragung der deutschsprachigen Bevölkerung in Privathaushalten durchgeführt. Insgesamt wurden dabei 2.000 Personen befragt. Die Umfrage befasst sich mit den Fragen, wie die Deutschen die Politik der Europäischen Union beurteilen und welche Reformen sie sich wünschen, wie sie die Solidarität innerhalb der Europäischen Union einschätzen und wie sie über die Zukunft Europas denken. Die Studie wurde auf der 12. Synode der EKD in Magdeburg vorgestellt.

Kernziel der Europa-2020-Strategie

Ein für die unter das Motto "Europäische Solidarität – Evangelische Impulse" gestellte Synode erfreuliches Ergebnis der Befragung ist, dass sich die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen ein sozialeres Europa wünscht: 87 Prozent der Befragten sprachen sich für EU-Reformen aus, die eine stärkere Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit in den Blick nehmen. Überraschenderweise werden solche Reformen von Befragten aller Einkommensgruppen mit Zustimmungswerten von über 80 Prozent befürwortet – es sind also nicht nur Geringverdiener und Arbeitslose, die sich für Reformen aussprechen.

Zugleich drängt sich bei diesem Ergebnis eine Frage auf: Gehört die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung nicht ohnehin bereits zu den fünf Kernzielen der Europa-2020-Strategie? Schon richtig, aber das hierbei gesetzte Ziel, die Zahl der in der EU von Armut und Exklusion bedrohten Menschen bis 2020 im Vergleich zum Jahr 2008 um 20 Millionen zu senken, wurde bislang deutlich verfehlt. Im Jahr 2015 waren nach Angaben von Eurostat in Europa 119 Millionen Menschen von Armut und Exklusion bedroht – das sind über eine Millionen Menschen mehr als 2008.

Die SI-Umfrage zeigt, dass die Deutschen diese problematische Entwicklung sehr bewusst wahrnehmen. Danach gefragt, wer am meisten von der EU-Politik profitiert, nennen 86 Prozent Unternehmen und 72 Prozent Besserverdienende – aber nur 29 Prozent Arbeitslose und 21 Prozent Geringverdiener. Auch diese Einschätzung findet sich übrigens bei allen Einkommensgruppen.

Wenig Vertrauen in die EU

Die Befragten sind dabei keineswegs der Auffassung, in der EU würde nicht solidarisch gehandelt. 80 Prozent der Befragten geben an, dass sich die EU für ärmere Staaten einsetzt. Zugleich glauben aber nur 47 Prozent, dass die EU auch für den Kampf gegen Armut und soziale Ungleichheit eintritt. In Anbetracht der Vielzahl von Hilfsprogrammen für europäische Krisenstaaten wenig überraschend nimmt die deutsche Bevölkerung somit sehr wohl wahr, dass Staaten geholfen wird – aber nicht unbedingt der Bevölkerung in diesen Staaten. Das ist ein – wenn auch sicherlich nicht der einzige – Grund dafür, dass das Vertrauen in die EU-Institutionen schwach ist. Im Durchschnitt aller Befragten liegt es bei 39 Prozent.

Armut, Ungleichheit und soziale Ausgrenzung sind Phänomene, die sich in der gesamten EU beobachten lassen. Selbst in Deutschland mit einer guten Wirtschaftslage und stark steigenden Beschäftigungszahlen hat sich die Quote der von Armut und Exklusion Bedrohten von 20,1 Prozent in 2008 auf 20 Prozent in 2015 kaum bewegt. Und in anderen EU-Staaten liegen die Quoten noch weit höher, beispielsweise bei 35,7 Prozent in Griechenland.

Das Problem ist nur: Die europäischen Institutionen besitzen eigentlich kein Mandat, die Sozial-, Steuer- oder Lohnpolitik in den einzelnen Mitgliedsstaaten direkt zu beeinflussen. Durch Auflagen für Staaten, die Hilfskredite erhalten, greifen sie zwar indirekt – und auf umstrittene Weise – in die Sozialpolitik einzelner Staaten ein. Aber die EU besteht nicht nur aus Krisenstaaten.

Ein Weg, Armut in Staaten, die sich wie Griechenland in besonderen sozialen Notlagen befinden, direkt zu beeinflussen, wären Lockerungen der Sparauflagen und Transferleistungen jener Staaten, die aufgrund ihrer relativ guten wirtschaftlichen Lage dazu in der Lage sind. Die Ergebnisse der SI-Umfrage machen aber deutlich, dass solche Maßnahmen in Deutschland nur schwer durchsetzbar sind. Nur eine – wenn auch sehr knappe – Minderheit (47 Prozent) spricht sich für eine bedingungslose Unterstützung von Krisenstaaten aus, während 18 Prozent der Befragten der Meinung sind, jeder EU-Staat sollte seine wirtschaftlichen Probleme allein lösen und weitere 35 Prozent anderen EU-Staaten nur dann helfen wollen, wenn diese unverschuldet in eine Notlage geraten sind.

Gemeinsam Wachstum fördern

Es scheint in Deutschland zwei beinahe gleich große Lager zu geben. Der Wunsch nach einer sozialeren EU wird von einem Teil der Deutschen gesamteuropäisch ausgelegt und beinhaltet die solidarische Hilfe für Staaten mit besonders ausgeprägten sozialen Problemlagen, während ein anderer Teil in erster Linie an die Armut und Ungleichheit im eigenen Land denkt.

Beide Auslegungen sind grundsätzlich legitim und – was häufig vergessen wird – auch miteinander vereinbar. Die europäische Wirtschaftspolitik ist kein Nullsummenspiel, bei dem die positive Entwicklung eines Staates zwingend eine negative Entwicklung anderer Staaten nach sich zieht. Jedenfalls dann nicht, wenn sich die EU zu einer koordinierten wachstumsfördernden Politik zusammenrauft und zugleich dafür Sorge trägt, dass künftig alle EU-Bürger von einer verbesserten wirtschaftlichen Lage profitieren.

Es wäre aber falsch, auf solche Schritte zu warten. Vielmehr sollte dort mit einer Bekämpfung von Armut und Ungleichheit begonnen werden, wo das mit nationaler Politik möglich ist. Nichts spricht beispielsweise dagegen, dass die deutsche Sozialpolitik diese Probleme selbst ernsthaft in Angriff nimmt. Auch auf diese Weise würde vermittelt, dass die Mitgliedschaft in der EU nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass nur ein Teil der Bevölkerung profitiert.

Andreas Mayert (für epd-sozial)


Andreas Mayert ist promovierter Sozialwissenschaftler und Diplom-Volkswirt. Seine Arbeitsschwerpunkte beim Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD sind Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie die Ökonomische Theorie sozialer Normen.