Debrecen – das "calvinistische Rom"

Die ungarische Reformationsstadt liegt auf dem Europäischen Stationenweg

31. Januar 2017

Eine Gedenktafel in Debrecen erinnert an die Reformatoren Huldrych Zwingli und Johannes Calvin. (Foto: s.unten)
Eine Gedenktafel in Debrecen erinnert an die Reformatoren Huldrych Zwingli und Johannes Calvin. (Foto: s.u.)

Der Reformationstruck ist unterwegs – und steuert Stationen an, die in der Reformation eine große Rolle gespielt haben. Am 31. Januar führt der Europäische Stationenweg ins ungarischen Debrecen. Die Reformationsstadt Europas öffnete sich früh den neuen Ideen und übernahm als Verwaltungszentrum und Schulstandort eine Schlüsselrolle.

Mitte des 16. Jahrhunderts nahmen mehrere ungarische Marktflecken die Lehren der calvinistischen Reformationsbewegung an, da sie dank des Patronatsrechts die Möglichkeit hatten, über ihre Pastoren selbst zu bestimmen. Debrecen kann als eine Art Sonderfall betrachtet werden: Die Akzeptanz der Reformation trug maßgeblich zur Entwicklung der Stadt und ihrer landesweiten Führungsrolle bei.

Es gab nur sehr wenige Orte in der Pannonischen Tiefebene, in denen das von den Reformatoren stark betonte Zusammenspiel zwischen Kanzel und Schule so effizient war wie in Debrecen. Die Stadt lag an der Grenze der drei wichtigsten Landesteile, die im Mittelalter das Königreich Ungarn gebildet hatten.

Sie verfügte nicht nur über ein umfassendes Netzwerk an Gilden, Zünften und Handelspartnern, sondern stellte als Verwaltungszentrum für die Infrastruktur der reformierten Kirche und des Schulwesens auch eine wichtige Verbindung zwischen den unterschiedlichen Landesteilen dar, was bei der weiteren Entwicklung der Stadt ebenfalls eine Rolle gespielt haben mag.

Moralisch und bibeltreu

Im Rahmen dieser langen symbiotischen Beziehung zwischen der reformierten Kirche und der Stadt Debrecen war die Kirche für Unterricht, Lehre und Gottesdienste verantwortlich, während die Stadt sich um die Kirchen- und Schulgebäude kümmerte. Bis Mitte der 1750er Jahre wachten Stadtrat und Magistrat außerdem über die Moral und das religiöse Leben in der Stadt und kontrollierten, von den biblischen Lehren ausgehend, das Familienleben und die moralisch korrekte und bescheidene Lebensführung der Bürger. Zur Frömmigkeit der Kaufleute und der Mitglieder der Gilden und Zünfte, denen innerhalb der Bürgerschaft eine Führungsrolle zukam, liegen detaillierte Informationen vor. Das Déri-Museum in Debrecen zeigt beispielsweise eine faszinierende Dauerausstellung zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt sowie typische Gegenstände aus dieser Zeit.

Vom Beginn der Reformation an war Debrecen ein intellektuelles und spirituelles Zentrum des Protestantismus in Ungarn. Aufgrund der engen Verbindung mit der reformierten, calvinistischen Tradition wird die Stadt oft als “ungarisches Genf“ oder “calvinistisches Rom“ bezeichnet. Die historische Beziehung zwischen Debrecen und der örtlichen reformierten Kirche spiegelt sich auch im Stadtwappen wider, welches in der Urkunde aus dem Jahr 1693 zu sehen ist, mit der Debrecen zur “königlichen Freistadt“ ernannt wurde.

Im oberen Teil des Wappens ist der mythische Phönix aus der Asche mit ausgebreiteten Flügeln und zur Sonne gerichtetem Blick zu sehen. Er symbolisiert die Vitalität der Stadt, die sich nach jeder Feuersbrunst und großen Zerstörung immer wieder erneuern konnte. Darunter zeigt das Wappen ein Lamm mit einer Flagge. Sowohl der Phönix als auch das Lamm mit der Flagge stellen in der christlichen Ikonographie wichtige Symbole für Christus dar. Vor dem Hintergrund der historischen Verbindung zwischen der Stadt und der reformierten Kirche wird deutlich, warum das Wappen von Debrecen zum weltweiten Symbol für die Reformierten aus Ungarn wurde.

Gedächtnispark und Kollegium

Wer in Debrecen nach Bauwerken aus der Reformationszeit sucht, wird
enttäuscht sein: Ein verheerender Großbrand im Jahr 1802 ließ das Stadtzentrum völlig zerstört zurück. Selbst die im gotischen Stil erbaute St. Andreaskirche aus dem 14. Jahrhundert musste neu errichtet werden, ebenso wie das Reformierte Kollegium. Der wichtigste Ort der Reformation ist der Gedächtnispark, in dem sich Überreste der Mauern der alten St. Andreaskirche, der ersten größeren reformierten Kirche Debrecens, befinden.

Durch bekannte frühe Reformatoren wie Márton Kál-máncsehi Sánta und Péter Melius Juhász kam der St. Andreaskirche zu Zeiten der Reformation eine bedeutende Rolle zu. Hier wurde am 24. Februar 1567 die Synode abgehalten, bei der das Zweite Helvetische Bekenntnis angenommen wurde. Von 1626 bis 1628 wurde die Kirche dank der großzügigen Unterstützung von Prinz Gábor Bethlen von Siebenbürgen wieder aufgebaut, dann jedoch im Jahr 1802 durch einen der zahlreichen Brände zerstört.

Der heutige Bau der Großen Reformierten Kirche wurde zwischen 1805 und 1827 nach Plänen des Architekten Mihály Péchy neu errichtet. Zu Debrecens interessanten Bauwerken zählt die auf dem Sockel des zerstörten Roten Turms errichtete Glaspyramide. In der Ausstellung im Turmsockel können sich die Besucher über die Geschichte des Turms informieren. Die Große Reformierte Kirche beherbergt gleich mehrere Ausstellungen, die die Geschichte der Gemeinde und der Reformation darstellen.

Fürstliche Vorreiter

Zwischen der Großen Reformierten Kirche und dem Reformierten Kollegium befindet sich der Gedächtnispark, in dem zwei Denkmäler besichtigt werden können: die Statue von István Bocskai, einem aus der Region jenseits der Theiß stammenden Aristokraten und gewählten Fürsten Siebenbürgens, sowie das Denkmal der Galeerensklaven. Interessanterweise entspricht die Bocskai-Statue der Statue des Reformationsdenkmals in Genf, wo Bocskai neben Oliver Cromwell und Wilhelm von Oranien zu sehen ist. Bocskai, eine symbolträchtige Figur, war ein bemerkenswerter Verfechter der Religionsfreiheit und Schutzpatron des Reformierten Kollegiums. Dank ihm siedelten sich die Heiducken in der Region um Debrecen an. Der im Jahr 1606 unterzeichnete Wiener Friedensvertrag war das Ergebnis des von Bocskai gegen die Habsburger angeführten Aufstandes, der 1604 begann. 1608 wurde den Anhängern des Augsburger und des Helvetischen Bekenntnisses vollständige Religionsfreiheit zugesprochen. Bocskai und seine reformierten Nachfolger Gábor Bethlen und György Rákóczi I. kämpften für die Freiheit von "patria" und "religio", was auch in Bezug auf den europäischen Protestantismus von Bedeutung war. Zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges im frühen 17. Jahrhundert widersetzten sie sich erfolgreich dem habsburgischen Absolutismus und einer aggressiven Gegenreformation.

Die Bocskai-Statue im Gedächtnispark stammt von Barnabás Holló und wurde von der Stadt Debrecen im Jahr 1906 anlässlich des 300-jährigen Jubiläums des Vertrags von Wien errichtet. Die Namen von 41 protestantischen Pastoren, die 1673 in Pressburg (Pozsony/ Bratislava) vor Gericht gestellt, unrechtmäßig beschuldigt, verurteilt und im Jahr 1675 als Galeerensklaven nach Neapel verkauft wurden, sind in das Denkmal der Galeerensklaven eingraviert. Der würdelose Umgang mit ihnen wurde in der Zeit nach dem Westfälischen Frieden in Europa äußerst negativ aufgenommen, weshalb ein groß angelegter internationaler Rettungsplan zu ihrer Befreiung ausgearbeitet wurde. Es wurden Spenden gesammelt, die diplomatischen Korps der protestantischen Länder leiteten Maßnahmen zur Unterstützung des Plans ein. Schließlich wurde der niederländische Admiral Michiel de Ruyter mit der Befreiung der Galeerensklaven beauftragt – es gelang ihm, 26 der Pastoren, die sich so mutig zu ihrem Glauben bekannt hatten, zu retten. Am 11. Februar 1676 nahm er sie an Bord seines Schiffes.

Netzwerk von Schulen

Das Denkmal wurde im Jahr 1895 mit finanzieller Hilfe eines Debrecener Gemeindemitglieds errichtet. Die lateinische Inschrift liest sich wie folgt: "Das Denkmal für die Pastoren, die wegen ihres Glaubens und ihrer freien Religionspraxis als Galeerensklaven von Ungarn nach Neapel verschleppt wurden." Das Galeerensklaven-Denkmal spielte für den Versöhnungsprozess zwischen den Protestanten und der römisch-katholischen Kirche in den 1990er Jahren eine wichtige Rolle: Am 18. August 1991 legte Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Debrecen einen Kranz am Fuße des Denkmals nieder. Heute erinnert ein Kranz aus Bronze an diese Geste der Versöhnung.

Eine weitere wichtige Stätte der Reformation ist das Reformierte Kollegium Debrecen, dessen Bibliothek über eine bedeutende Sammlung von Dokumenten aus dem 16. und 17. Jahrhundert verfügt. Neben der Großen Reformierten Kirche ist auch das Reformierte Kollegium Debrecen ein Nationaldenkmal. Zur Linken des Eingangs dieses imposanten Gebäudes finden sich Gedenktafeln für Calvin und Zwingli. Das Reformierte Kollegium beherbergt eine Ausstellung zur regionalen Kirchen- und Schulgeschichte, eine Sammlung sakraler Kunst und die Bibliothek des Reformierten Kirchendistrikts jenseits der Theiß. Zusammen vermitteln sie dem Besucher ein umfassendes Bild der Reformierten Kirche in Ungarn, deren Wurzeln zwar in lokalen Traditionen liegen, die jedoch gleichzeitig eng mit den spirituellen Zentren Westeuropas und den jeweiligen Kulturen verbunden ist.

Die Schule wurde bereits 1538 protestantisch und entwickelte sich anschließend bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer reformierten Bildungseinrichtung von nationaler Bedeutung. Viele ihrer Lehrer und Schüler erlangten einen ausgezeichneten Ruf. Das Reformierte Kollegium fungierte gleichzeitig als Grundschule, weiterführende Schule und Hochschule, und einige der Hochschulstudenten erhielten Stipendien und studierten an Universitäten in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden und Großbritannien.

Mit dem Reformierten Kollegium als “Alma Mater“ entstand in der Region ein ausgedehntes Schulnetz. Aufgrund der Vielzahl an Schulen und deren Lage entwickelte sich das Debrecener Reformierte Kollegium zur “Schule des Landes“. Neben dem Kollegium trug auch die Erfindung der Druckerpresse stark zur Bildung der öffentlichen Meinung in der Stadt bei. Gál Huszár entwickelte die erste Druckerpresse Debrecens im Jahr 1561. Seitdem verfügt die Stadt über ein lebendiges Verlagswesen. [...]

Béla Levente Baráth


Weiterführende Literatur

Bucsay, Mihály, Der Protestantismus in Ungarn 1521–1978. Ungarns Reformationskirchen in Geschichte und Gegenwart, Teil 1, Wien u. a. 1977
Murdock, Graeme, Calvinism on the Frontier, 1600–1660. International Calvinism and the Reformed Church in Hungary and Transylvania, Oxford 2000 (Oxford Historical Monographs)
Fata, Márta u.a. (Hg.), Ungarn, das Reich der Stephanskrone, im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung: Multiethnizität, Land und Konfession 1500 bis 1700, Münster 2000
Kovács, Ábrahám / Baráth, Béla Levente (Hg.), Calvinism on the Peripheries: Religion and Civil Society on the Peripheries of Europe, Budapest 2009
Fata, Márta / Schindling, Anton (Hg.), Calvin und Reformiertentum in Ungarn und Siebenbürgen. Helvetisches Bekenntnis, Ethnie und Politik vom 16. Jahrhundert bis 1918, Münster 2010
Bernard, Jan Andrea, Konsolidierung des reformierten Bekenntnisses im Reich der Stephanskrone. Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte zwischen Ungarn und der Schweiz in der frühen Neuzeit (1500–1700), Göttingen 2015 (Refo500 Academic Studies 19)

Bildnachweise

1. By Fekist (Own work), Wikimedia Commons [CC BY-SA 4.0]
2. FORTEPAN / Márton Gábor, via Wikimedia Commons [CC BY-SA 3.0]

3. By NN (http://www.nemzetijelkepek.hu), Wikimedia Commons [Public domain]
4. By
Björn Láczay (http://www.flickr.com/photos/dustpuppy/208302736), Flickr [CC BY-SA 2.0]


Der gekürzte Text ist entnommen aus:

Europa reformata. Reformationsstädte Europas und ihre Reformatoren
Herausgegeben von Michael Welker, Michael Beintker und Albert de Lange. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2016, 504 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-374-04119-0, 29,90 Euro (D)

 

Dr. Béla Levente Baráth ist Dozent am Institut für Geschichte der Reformation und des Protestantismus der Reformierten Theologischen Universität Debrecen.