Nicht unter den Teppich kehren

Filmemacher Nico Hofmann und Historiker Volkhard Knigge sprechen über die Erinnerung an den Holocaust

27. Januar 2017

Volkhard Knigge und Nico Hofmann in Buchenwald
Volkhard Knigge (li.) und Nico Hofmann in Buchenwald. (Foto:Henriette Kriese)

Lange wurde über die deutsche Geschichte während der NS-Zeit geschwiegen oder die Vorgänge wurden verharmlost. Die Erinnerung durchlief verschiedene Phasen, wie Nico Hofmann und Volkhard Knigge anhand ihrer eigenen Biografien deutlich machen. Wie soll das Gedenken heute aussehen? Der Filmemacher will Menschen über die NS-Zeit zum Reden bringen, der Gedenkstättenleiter setzt auf Bildung. 

Herr Knigge, Herr Hofmann, Sie haben viele KZ-­Überlebende getroffen. Was haben Sie von ihnen gelernt?

Volkhard Knigge: Sie sind bewundernswert: nicht zynisch, nicht menschenskeptisch, wofür sie ja alle Gründe hätten. Sondern sie wollen die Welt besser machen. Die Erfahrung von Menschenfeindlichkeit kann den Willen zur Mitmenschlichkeit stärken.

Nico Hofmann: Ich habe die Schriftstellerin Inge Deutschkron ­erlebt, die in Berlin wohnt. Sie geht an Schulen und erzählt mit unglaublicher Menschlichkeit und Würde aus ihrem Leben und wie es zu diesen Exzessen aus Gewalt und Abgrund kommen konnte. Diese absurde Trennung – hier die Juden, dort die Deutschen. Vor 1933 waren sie doch Freunde! Wenn ich das Leben meiner Mutter betrachte: In Mannheim-Neckarstadt sind 14-, 15-jährige Mädchen aus ihrer direkten Nachbarschaft verschwunden, und meine Mutter hat Jahrzehnte dafür gebraucht, darüber zu reden, warum sie verschwunden sind. 

Sie sind beide in den 50er Jahren geboren. Wie haben Sie es als Jugendliche empfunden, dass die Eltern und Großeltern nicht gesprochen haben?

Knigge: Ich wollte in einer Bundesrepublik, in der alles unter ­den Teppich gekehrt wird, nicht gerne leben. Es wurde ja nicht nur  geschwiegen. Es wurde verharmlost! Es gab Serien in den Illustrierten über den Krieg oder Flucht und Vertreibung, es wurde vernehmlich gesprochen. Aber unwahr, relativierend, verleugnend. Geschwiegen wurde eher in den Familien. Alles, was man unter den Teppich kehrt, fängt irgendwann an zu stinken. Diese Art von Umgang mit belastender Vergangenheit macht gerade nicht frei von ihr. Man klebt auf eine furchtbar dumpfe Weise an ihr fest.

Hofmann: Frühere Kriegsberichte meines Vaters endeten bei Schweinebratengrillen in der Ukraine. Die Erinnerung war: ­Kameradschaftsgeist, toll zusammengehalten, wie eine Pfad­finder-Exkursion. Dass mein Vater in der Ukraine mindestens 24 Russen erschossen hat und überlebt hat, weil er unter diesen toten Russen Deckung fand und die anderen Russen über ihn rüberkletterten, kam erst vor zehn Jahren hoch. Welche emotionale Vereisung, welche Verklärung!

Knigge: Der Nationalsozialismus ragte tief in die Bundesrepublik hinein. Es waren noch Gesetze aus der NS-Zeit in Kraft, Schulen oder Kasernen trugen Namen von NS-Tätern. Und es gab nationalsozialistisch geprägte Oberstudienräte – die autoritären Traditionen der Erziehung waren ungebrochen. Mein Geografielehrer verteilte Zettel, auf denen das großdeutsche Reich abgebildet war, und wir mussten die verlorenen Städte eintragen. Er erzählte von den tollen deutschen Waffen, und dummerweise hatte der Führer, umgeben von schlechten Ratgebern, die Deutschen am Ende enttäuscht. Ich werde diesen Moment nie vergessen, als diese Lehrer abgelöst wurden von jungen Referendaren, die echte Bundes­republikaner waren. Das war wie frische Luft.

Kommt Ihnen das bekannt vor, Herr Hofmann?

Hofmann: Ja! Wir hatten einen Biologielehrer, der noch Zeichnungen aus NS-Rasselehrbüchern verteilte. Ein komplett offener Nationalsozialist. Ich war damals Klassensprecher, und wir haben alles dafür getan, diesen Lehrer loszuwerden. Aber er war unangreifbar, nicht pensionierbar. Das Gegenstück war mein Deutsch- und Geschichtslehrer, eine andere Generation. Dieser Mann hat mich an die deutsche Geschichte herangeführt.

Knigge: Ich hatte mit 17 den Drang, dorthin zu gehen, wo mein Vater Besatzungssoldat gewesen war – nach Frankreich. Ich habe lange mit einem Bein im Ausland gelebt, während mir dieses Deutschland sehr lieb und zugleich sehr unheimlich war. Es war nichts wichtiger als das deutsch-französische Jugendwerk. Das waren beglückende Erfahrungen. Außerdem verliebte man sich. Als ich zu meiner ersten französischen Freundin fuhr, war es unmöglich, in die Familie eingeladen zu werden. Für die Eltern war ich der aggressive Deutsche, der schon zweimal das Land verheert hatte. Wir sind also zur Isle of Wight getrampt, dort war gerade ein Festival, und Leonard Cohen hat wunderbar ­gesungen.

Hofmann: Ich hatte auch diesen Wunsch, Deutschland von außen zu betrachten. Meine Eltern waren Journalisten, sehr politisch, aber emotionale Erinnerungen aus der NS-Zeit waren nur schwer möglich. Ende der 70er lief die Serie „Holocaust“ im Fernsehen – ein melodramatisch zugespitztes Werk, über das heftig diskutiert wurde. Ich war spätpubertär und sehr aggressiv, und bei einem Mittagessen mit meinen Eltern habe ich das Tischtuch heruntergerissen. Ich habe zu ihnen gesagt: Damit ihr es endlich wisst, wenn ich mich überhaupt mit etwas identifiziere, dann mit dem jüdischen Leid, und absolut nicht mehr mit euch. Ich habe mich über Jahre von meinen Eltern distanziert. Als ich Mitte 20 war, war meine Mutter endlich bereit, hinter diese Folie zu schauen. Wir haben gemeinsam ihre Tagebücher gelesen. Mein Vater ist jetzt 90, und seit drei Jahren sind seine Kriegserlebnisse das ausschließliche Thema. Ich frage mich, wie diese Generation die ­Geschichten ihres Lebens so lange mit sich herumtragen konnte.

Ist in diesem Verschweigen und Verdrängen das Feuer be­gründet, das Sie antreibt?

Knigge: Ja. Ich wollte dieser Form von Menschenfeindlichkeit, von menschengemachtem Tod und Leid nicht das letzte Wort ­lassen. Bis 1945 haben sich Gesellschaften und Nationen sehr stark nur auf ihre oft geschönte positive Geschichte bezogen: Großtaten und Helden. Das war für Deutschland so nicht mehr möglich, es entwickelte sich über 20, 30 Jahre ein selbstkritisches Gedächtnis: Wie orientiert man sich an einer Geschichte, die nicht hätte passieren dürfen? Durch Absetzung. Durch kritische Auseinandersetzung. Durch Gegenhandeln in der Gegenwart. 

Hofmann: Beim Filmemachen hat sich auch einiges verändert: Vor 20 Jahren gab es große didaktische Aufarbeitungsfilme, darunter unfassbar hölzerne, eiskalte Stücke. Dann kamen Melodramen wie die „Holocaust“-Serie, später gehörten auch Werke von mir dazu: 2005 lief „Dresden“ im Fernsehen, 2007 „Die Flucht“. Beide  Filme haben die höchsten fiktionalen Einschaltquoten der letzten 15 Jahre erreicht. Seit ein paar ­Jahren habe ich aber das Gefühl, man wurde den Themen allenfalls noch gerecht mit einer allgemeinen Emotionalisierung, vielleicht auch einer gewissen Differenzierung, aber es ging nicht wirklich ­darum, historische Genauigkeit zu vertiefen.

Und dann kam 2013 „Unsere Mütter, unsere Väter“. Warum war dieser Film für Sie so wichtig?

Hofmann: Ich hatte schon lange den Wunsch, das Leben meines Vaters zu erzählen und über fünf Jahre mit dem Autor Stefan Kolditz an dem Projekt gearbeitet, bis wir gedreht haben. Es gab harte Kritik aus Polen, die für mich schmerzhaft war und die ich nachvollziehen kann: Wir haben polnische Partisanen als Antisemiten dargestellt. Trotzdem ist genau das passiert, was ich wollte: Viele Familien sind zum ersten Mal über Generationen hinweg in Dialog über das Dritte Reich und den Krieg getreten.

Knigge: Wir wollen die sein, die anstoßen – mit unterschiedlichen Medien und Zugängen. Sie bringen Dinge ins Bild, über die viel zu lange geschwiegen wurde. Das ist in „Unsere Mütter, unsere Väter“ der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Ich finde die stillen Bilder besonders eindrücklich. Zum Beispiel merkt der Protagonist, der durch einen Sumpf im Osten geht, dass er blutdurchtränkt ist von den Massenerschießungen. Mir waren im Film auch die Momente sehr wichtig, in denen man sieht: Nicht Hitler hat sich die Deutschen gesucht, sondern diese deutsche Gesellschaft mit ihren Prägungen wählte diesen Mann. In allen Schichten der deutschen Gesellschaft gab es Zustimmung. Wie ist zu erklären, dass das Gebot „Du sollst nicht töten“ in Hochgeschwindigkeit in das Gebot „Du sollst töten“ umgewandelt wurde? Töten im Sinne der Säuberung der Volksgemeinschaft, der Ausgrenzung von Fremden.

Nico Hofmann hat den Roman „Nackt unter Wölfen“, der im KZ Buchenwald spielt, neu verfilmt. Häftlinge verstecken einen jüdischen Jungen vor der SS und retten ihm das Leben. Gefällt Ihnen der Film, Herr Knigge?

Knigge: „Nackt unter Wölfen“ war der beste Propaganda-Coup der DDR. Bruno Apitz schrieb diesen Roman, um die kommunistischen Häftlinge zu verteidigen, die 1949 bis 1952 in die stalinistischen Säuberungen ihrer eigenen Partei gerieten. Ihnen wurde vorgeworfen, mit der SS kollaboriert zu haben. Dann merkte die Partei: Die Buchenwald-Story funktioniert. Und Stefan Jerzy Zweig, den Apitz nicht gekannt hatte, wurde ab 1964 als das Kind im Roman ausgegeben. Der aktuelle Film erweitert den Blick. Trotzdem bin ich froh, dass der Untertitel heißt „Nach Motiven des Romans...“ Viele Besucher werden sie dennoch für „die wahre Geschichte von Jerzy Zweig“ halten. Schon nach dem Film „Schindlers Liste“ gab es in den Gedenkstätten Besucher, die nicht wegen des historischen Ortes kamen, sondern wegen des Filmschauplatzes.

Das ist doch gut.

Knigge: Nein. Die Verwechslung von Fiktion mit Wirklichkeit macht Menschen nicht klüger, lässt sich aber vermarkten. Wenn man die Stelle aufsucht, wo John Wayne im Film verwundet ­wurde, lernt man nichts über die Geschichte des Genozids an den Indianern.

Viele hätten sich sonst vielleicht nicht mit dem Thema befasst?.?.?.

Knigge: Das ist ein großer Irrtum. Wir sind das besucherstärkste Museum in Thüringen, ein „Must go“. Aber wir möchten nicht nur Augenblicksbetroffenheit erzeugen oder touristisch florieren.

Hofmann: Ideal wäre, wenn ein Film wirklich Leute dazu animiert, hierherzukommen und sich auf das Thema einzulassen. Die Vorstellung, sie kommen hierher, um zu gucken, wo die Originalkulisse des Films steht, wäre für mich ein Alptraum. 

Knigge: Die Zukunft der Erinnerung liegt in einer soliden historischen Bildung mit einer politischen, kulturellen und ethischen Dimension. Die jungen Leute kommen zu uns, weil wir sie nicht moralisch volldröhnen, sondern weil sie mit den Dokumenten – wie Detektive – auf den Spuren eines Verbrechens arbeiten können: Warum hat es so lange gedauert, Verbrechen als Verbrechen anzuerkennen? Warum sind so wenige, selbst Haupt­täter, bestraft worden? Warum hat die Gesellschaft das lange verklärt? Warum hat es echte Trauerarbeit so lange nicht gegeben?

Hofmann: Wir verschieben die Trauer in ikonenhafte Schwarz-Weiß-Bilder von der Vernichtung der Juden. Es gibt Bildschleifen, die Samstagabend stundenlang bei n-tv und N24 laufen. Diese Bildmotive werden überhaupt nicht mehr hinterfragt. In „Nackt unter Wölfen“ brüllt unsere Hauptfigur auf dem Appellplatz: „Euch wird man nie vergessen – die Schande der Menschheit.“ Wegen dieser Szene habe ich den Film gemacht. Es geht mir um die emotionale Erkenntnis, dass wir das alles zugelassen haben.

Was entgegnen Sie einem Jugendlichen, der sagt: „Ich habe damit nichts zu tun, und ich will davon auch nichts hören“?

Knigge: Ich sage erst mal: Sie haben völlig recht. Sie haben damit nichts zu tun. Hinterfragen Sie jeden, der nur an Sie appelliert, sich zu erinnern. Vertrauen Sie aber einem, der Ihnen mit Hilfe von Zeugnissen einen Weg zu dieser Vergangenheit öffnen will. Sie hat Wichtiges zu sagen, kann Orientierung darüber geben, wie man sich politisch verhält, damit Gesellschaften ihren humanen Atem nicht verlieren. Menschen können radikal böse, aber auch sehr mitmenschlich sein. Unter welchen Bedingungen wird die eine oder die andere Fähigkeit gestärkt?

Wird es für unsere Enkel noch wichtig sein, ob hier eine russische Schulklasse sitzt, eine deutsche oder eine israelische?

Knigge: Das macht so lange einen Unterschied, wie wir uns als Nation verstehen. So lange sagen wir: „Das ist unsere Geschichte.“ Zwar gibt es keine Vererbung von Schuld, aber wir sind herausgefordert, Verantwortung und eine Art politischer Haftung zu übernehmen. Es ist die Geschichte unserer Vorfahren. Wir können frei werden davon. Nicht indem wir die Geschichte unter den Teppich kehren, sondern indem wir sie durcharbeiten.

Hofmann: Ich glaube, dass jede Generation neu definieren muss, wie sie mit deutscher Geschichte umgeht. Wir wollen eine aktive Erinnerungsarbeit. Natürlich ist in „Nackt unter Wölfen“ auch der Wunsch enthalten, diese Geschichte annehmen zu können, obwohl sie in ihrer Bestialität kaum zu begreifen ist.

Knigge: Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hinterlässt positive Reichtümer und negative. Mit den einen kann man sich identifizieren, vom Negativen muss man sich abgrenzen. Ich hatte nie das Gefühl, dass wir Tag und Nacht, seitdem wir 17 sind, freudlos und in Sack und Asche durchs Leben laufen und uns ständig schämen. Im Gegenteil: Wir sind auf einmal dort willkommen, wo unsere Väter und manchmal auch unsere Mütter furchtbare Dinge getan oder mit zu verantworten haben. Man muss diese beiden Erfahrungen weitergeben, darin steckt das Wunderbare. Deswegen ist es nicht nur furchtbar, in Buchenwald zu arbeiten. Aber dass sich manchmal der Boden auftut, bestreite ich nicht.

Interview: Hedwig Gafga, Mareike Fallet
Der Beitrag erschien im Mai 2015 im Magazin chrismon.


Nico Hofmann, Jahrgang 1959, ist vielfach preisgekrönter TV-Produzent, Drehbuchautor und Regisseur. Er produzierte etwa "Unsere Mütter, ­unsere Väter“, "Die Flucht“, "Dresden“.  "Nackt unter Wölfen“ ist eine Neuverfilmung von Bruno Apitz' Roman, in dem erzählt wird, wie Häftlinge des KZ Buchenwald einen jüdischen Jungen versteckten und ihm damit das Leben retteten. Im Jahr 2017 ist Nico Hofmann Reformationsbotschafter für das Reformationsjubiläum.

Volkhard Knigge, Jahrgang 1954, ist seit über 20 Jahren Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Und er ist Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena. Knigge wurde unter anderem ausgezeichnet mit dem Heinz-Galinski-Preis der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und dem Wartburgpreis der Wartburg-Stiftung.