Der Fackelträger des Evangeliums

Die Stadt Neuchâtel wurde im 16. Jahrhundert zu einer Schaltzentrale des neuen Glaubens

14. Januar 2017

Neuenburg / Neuchâtel im 17. Jahrhundert. (Foto: s.unten)
Die Stadt Neuenburg/Neuchâtel im 17. Jahrhundert. (Foto: s.unten)

Das Themenjahr "Reformation und die eine Welt" hat aufgezeigt, dass sich Reformation weder linear noch lokal, sondern gleichzeitig, vielfältig und weltweit abgespielt hat – und das auch weiterhin tut. Im Vorfeld der EKD-Synode unter dem Schwerpunktthema "Europa in Solidarität – Evangelische Impulse" fokussieren wir den Blick noch mal auf Europa. Zum Beispiel Neuenburg (Neuchâtel): In dieser Reformationsstadt Europas wirkte mit Wilhelm Farel ein energischer Reformator, dessen Wirkung auch auf andere Städte im französischen Sprachraum ausstrahlte.

Wilhelm Farel gehörte zu den Franzosen der ersten Stunde, die Anhänger reformatorischer Erkenntnisse wurden. Er war 1489 in Gap geboren worden und absolvierte das artistische Studium in Paris. Dort trat er in Kontakt mit Jacques Lefèvre (Faber Stapulensis), der ihn stark beeinflussen sollte. Farel gehörte mit ihm zusammen in den ersten Jahren nach 1520 dem Meaux-Kreis an, der sich um eine Reform der Kirche Frankreichs bemühte. Anschließend zog Farel im östlichen Frankreich von Stadt zu Stadt. Mit seiner Ankunft in Basel offenbarte sich sein feuriger und zweischneidiger Charakter – gleichsam wie das Feuerschwert, das er als persönliches Symbol angenommen hat: schlagkräftig wie Ärgernis erregend. Dadurch zog er sich die Feindschaft des Erasmus zu, die auch seine Ausweisung aus der Stadt am Rhein zur Folge hatte. Allerdings fanden seine rhetorischen Fähigkeiten in Auseinandersetzungen sehr wohl Anerkennung, wenn er auch kein Theologe war. So übertrug ihm Bern 1528 den französischen Part bei der Disputation, die zur Annahme der Reformation in dieser Stadt führte. Auch wurde Farel als Prediger in die französischsprachigen Gebiete von Bern entsandt.

Seine Tätigkeit in Neuenburg wurde zwar nicht direkt von Bern aus gesteuert, profitierte jedoch (wie schon erwähnt) von dessen willkommener Unterstützung. Es war für Farel ein ernstes Anliegen, die Reformation in den französischsprachigen Ländern zu verbreiten. Dass er diese Aufgabe gerade von Neuenburg aus in Angriff nahm und weit größeren Städten wie Lausanne oder Genf vorzog, lässt sich mit dem Einfluss Berns auf die Bürger dieser Stadt erklären. Dazu kamen die Abwesenheit eines Bischofssitzes und die weite Entfernung der streng katholisch gebliebenen Gräfin. Neuenburg war zugleich ein nahegelegenes Tor zu Frankreich. Mit der Abstimmung vom 4. November 1530 avancierte Neuenburg zur ersten reformierten Stadt im französischsprachigen Raum und wurde zu einem Drehkreuz für die Verbreitung des neuen Glaubens – ein Status, den die Stadt in der Folgezeit allerdings an Genf abtreten musste.

Gerade Genf sollte von 1532 bis 1536 der Wirkungsort des Reformators werden. Im Jahr 1536 gelang es Farel, kurz nachdem sich die Stadt der Reformation angeschlossen hatte, Johannes Calvin zum Verbleib an den Ufern des Genfer Sees zu bewegen. In all diesen Jahren war Farel nicht in Neuenburg anwesend, sondern setzte dort Antoine Marcourt als ersten Pfarrer ein. Dessen Amtszeit deckt sich mit der Blütezeit Neuenburgs als Schaltzentrale des neuen Glaubens, zunächst nur für den Hauptort selbst, dann nicht nur für die übrigen Teile der Grafschaft, sondern auch im Hinblick auf den ganzen französischen Sprachraum. 1533 veröffentlichte Marcourt den Livre des marchands (Buch der Händler), der unter diesem unverfänglichen Titel die Zensur hintergehen sollte, in Wirklichkeit jedoch ein satirisches Pamphlet gegen die Profitgier des katholischen Klerus
darstellte.

Wichtige Drucke entstehen

Größtes Aufsehen löste er im Jahr 1534 aus, als in der Nacht zum 18. Oktober Tausende von Exemplaren eines höchstwahrscheinlich von ihm geschaffenen Plakats in Paris und anderen Städten Frankreichs bis hin zu den Privatgemächern von König Franz I. verteilt wurden. Das Plakat übte derbe Kritik an der Messe, besonders an der Realpräsenz Christi beim Abendmahl. Dadurch erregte es den Zorn der katholischen Partei in Frankreich, später diente es als Vorwand für gewaltsame und blutige Unterdrückungen.

Nach 1531 befand sich auch Pierre Olivétan regelmäßig in Neuenburg. Dieser Vetter Calvins wurde vor allem durch sein Hauptwerk bekannt: die erste vollständige Bibelübersetzung in französischer Sprache auf der Grundlage des hebräischen und griechischen Urtextes. Er brauchte für diese Arbeit nicht mehr als zwei Jahre!

Zur Verbreitung ihrer Werke und Predigten waren sowohl Marcourt als auch Olivétan auf die Dienste eines Buchdruckers angewiesen. Im Jahr 1533 musste der zuerst in Lyon als Drucker wirkende Pierre de Vingle seinen Aufenthalt in Genf beenden und ließ sich daraufhin in Serrières nieder – genau in dem Stadtteil Neuenburgs, in dem Farel vier Jahre vorher seine erste Predigt gehalten hatte. Dort existierte bereits eine Papierfabrik. In der angeschlossenen Druckerei entstanden Marcourts Livre des marchands, die Plakate sowie Olivétans Bibelübersetzung ins Französische. Nach dem Abschluss dieser Arbeiten brach de Vingle erneut auf und beschloss damit eine ebenso glänzende wie kurze Episode in der Geschichte des Buchdrucks und Verlagswesens von Neuenburg.

Konsolidierung einer jungen Kirche

Mit der Durchsetzung der Reformation in Genf und ihrer Ausbreitung im Waadtland vollzog sich im Jahr 1536 eine Wende. Neuenburg verlor seinen Status als Zentrum des reformierten Glaubens, bemühte sich aber unverzüglich, Farel zurückzugewinnen, als er 1538 wie Calvin aus Genf vertrieben wurde. Da Marcourt zum Nachfolger beider Prediger in Genf bestimmt wurde, verlor Neuenburg folglich seinen Pfarrer und an seine Stelle trat nun Farel. Wenn der Reformator auch zu energiegeladen für ein sesshaftes Leben war, folglich oft nach Frankreich und Deutschland reiste, so nahm er doch bis zu seinem Tod im Jahre 1565 seinen Wohnsitz in Neuenburg. Im Allgemeinen stammen die bildlichen Darstellungen seiner Person aus seinen letzten Lebensjahren, die in der Folgezeit auch Grundlage für ihre ikonographische Entwicklung werden sollten.

Diese Jahre nach 1536 galten der Konsolidierung und Institutionalisierung einer noch ganz jungen Kirche in einem außergewöhnlichen religionsgeschichtlichen Umfeld. 1536 schloss sich nämlich die ganze Grafschaft Neuenburg der Reformation an. Nur die Kleinstadt Le Landeron und das Dorf Cressier hielten unbeugsam an der Messfeier fest und wurden in ihrem Bestreben, katholisch zu bleiben, erfolgreich vom Kanton Solothurn unterstützt. Noch überraschender ist, dass es sich genauso mit der Schlosskapelle von Neuenburg in unmittelbarer Nähe zur reformiert gewordenen Stiftskirche verhielt. Das hing damit zusammen, dass die Grafschaft Neuenburg eine bemerkenswerte Ausnahme von dem religionspolitischen Grundsatz „Cuius regio, eius religio“ darstellte. Die Herrscherfamilie ist daher bis zum 18. Jahrhundert katholisch geblieben, und obwohl die Untertanen reformiert waren, delegierte sie einen altgläubigen Gouverneur, der zur Erfüllung seiner religiösen Pflichten einen entsprechenden Kultort benötigte.

Kontrolliertes Alltagsleben

Schon in den Jahren nach 1530 wurde die „Vénérable Classe“ als Stiftsorgan eingerichtet,in dem alle Pfarrer vertreten waren. Sie hatte die Ausbildung der künftigen sowie die Tätigkeit der amtierenden Pfarrer zu kontrollieren. Denn ihr oblag ganz allgemein die Verwaltung der reformierten Kirche, sie übte jedoch kein theologisches Lehramt im eigentlichen Sinne aus. Diese Institution blieb bis zum Ende des Ancien Régime im Jahre 1848 bestehen. Ihre äußerst wertvolle Bibliothek ist bis heute ein Zeugnis ihrer Bedeutung in der Geschichte von Neuenburg, aber auch weit darüber hinaus, mit so herausragenden Gestalten wie vor allem Johann Friedrich Ostervald (1663–1747) im 18. Jahrhundert, dessen Denken, europaweite Beziehungen und neue Bibelübersetzung große Beachtung fanden.

Die im Wesentlichen von Calvin geprägte und von Farel beeinflusste Reformation hatte entscheidende Auswirkungen auf das von Kirche und weltlicher Macht streng kontrollierte Alltagsleben der Grafschaft. Zur „Ausmerzung von Lastern“ wurden Kirchenordnungen erlassen. Die Sittlichkeit wurde detailliert geregelt und überwacht, Trunksucht, Spielleidenschaft und Tanzvergnügen sollten verbannt werden.

Im öffentlichen Raum führte die Reformation zur Preisgabe mehrerer kleiner Kapellen und zum Neubau von Kirchen und profanen Bauten im Stile des nüchternen Neoklassizismus. Einigen neuen Denkmälern kommt eine besondere Bedeutung zu, wie beispielsweise der Justitia-Statue von 1545/1547, zu deren Füßen die Figuren von Ratsherr, Sultan, Kaiser  und Papst gruppiert sind. Auch wenn es sich eigentlich nur darum handelte, die Überlegenheit der Justitia gegenüber jeder Instanz weltlicher Macht zu demonstrieren, so kommt der Gestalt des untergeordneten Papstes in einer erst kurze Zeit vorher zum reformierten Glauben übergegangenen Stadt eine besondere Bedeutung zu.

Aus der Zeit gefallen

Das vielleicht aussagekräftigste, zumindest sichtbarste Zeugnis der Reformation in Neuenburg repräsentiert die von Charles Iguel geschaffene und im Jahre 1876 vor der Stiftskirche eingeweihte Statue Wilhelm Farels. Mit entschlossenem Gesichtsausdruck und in einer gewaltbereiten Körperhaltung reckt er die Heilige Schrift empor und tritt Häupter von Heiligen mit Füßen. Als gemeinsames Auftragswerk von Stadt- und Kirchenverwaltung widersprach dieses Monument selbst der Willenskundgebung Farels, der sich lediglich einen bescheidenen und diskreten Stein in Form einer Grabplatte gewünscht hatte. Diese Statue verkörperte auch ein Symbol für den damals ausgebrochenen Kulturkampf und eine handfeste Opposition gegen die katholische Kirche.

Heute, in einem säkularen Umfeld, mitten in einer Stadt stehend, in der die Konfessionslosen zur Mehrheit geworden sind und gegenwärtig mehr Katholiken als Protestanten leben, hinterlässt diese Statue einen seltsamen und überholten Eindruck. Sie erinnert aber sehr wohl an den Erfolg der Reformation, vergleichbar mit einem Geschichtsbuch, das genauso weit geöffnet ist wie die Bibel in den Händen des energischen Farel.

Grégoire Oguey


Weiterführende Literatur

  • Henry, Philippe / Jelmini, Jean-Pierre (Hg.), Histoire du Pays de Neuchâtel, Bd. 2: De la Réforme à 1815, Hauterive 1991
  • Morerod, Jean-Daniel u. a. (Hg.), Cinq siècles d’histoire religieuse neuchâteloise. Approche d’une tradition protestante. Actes du colloque de Neuchâtel (22-24 avril 2004), Neuchâtel 2009 (Recueil de travaux publiés par la Faculté des lettres et sciences humaines 54)
  • Barthel, Pierre u. a. (Hg.), Actes du colloque Guillaume Farel (Neuchâtel 29 septembre – 1er octobre 1980), 2 Bde., Genf u.a. 1983 (Cahiers de la Revue de théologie et de philosophie 9/I et 9/II)

Bildnachweise

1. By Matthäus Mérian (1593-1650), Wikimedia Commons [Public domain]
2. Painting by: Henri-Louis Convert (1789–1863) Lithography by: Gagnebin, Neuchâtel, Wikimedia Commons [Public domain]
3. By Ikiwaner (Own work), Wikimedia Commons [CC-BY-SA-3.0]


Der gekürzte Text ist entnommen aus:

Europa reformata. Reformationsstädte Europas und ihre Reformatoren
Herausgegeben von Michael Welker, Michael Beintker und Albert de Lange. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2016, 504 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-374-04119-0, 29,90 Euro (D)

 

Grégoire Oguey ist Assistent für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Neuchâtel und Mitglied des Schweizerischen Instituts in Rom sowie Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Hugenottengeschichte.