Kanon in der Knast-Kapelle

Gefangene und Ehrenamtliche treffen sich in Karlsruhe wöchentlich zum Singen

5. Dezember 2016

Der "gemischte" Chor. (Foto: epd-Bild/Christine Süß-Demuth)
Der "gemischte" Chor. (Foto: epd-Bild/Christine Süß-Demuth)

Wer meint, Singen sein nichts für "schwere Jungs", wird in Karlsruhe eines Besseren belehrt. Immer mittwochs singen dort Gefangene und Ehrenamtliche gemeinsam im Kirchenchor an der Justizvollzugsanstalt (JVA). Der Klang der Frauen- und Männerstimmen erfüllt die Knast-Kapelle, wird durch die offenen Fenster in den Innenhof getragen.

Die Sänger nehmen ihren Atem wahr, fühlen Klänge, hören aufeinander und singen mit Leib und Seele. Es fallen keine blöden Sprüche, als Chorleiter Ralph Hammer mit jedem Einzelnen die Passagen des lateinischen Hymnus "Ave Maris Stella" übt.

"Seelenmassage"

In Karlsruhe sitzen erwachsene männliche Gefangene ein, bei denen Untersuchungshaft angeordnet wurde. Die Delikte, die ihnen vorgeworfen werden, reichen von Diebstählen über Drogenmissbrauch bis hin zu Mord und Totschlag. Bis zu ihrer Verhandlung sind sie durchschnittlich sechs bis 12 Monate dort.

Einer von ihnen ist Karim. Konzentriert versucht er, die lateinischen Worte richtig auszusprechen und die Töne genau zu treffen. Warum er im Chor mitsingt? "Das ist Seelenmassage," sagt Karim, der vorher noch nie gesungen hat. "Ich mache Sport für den Körper und Musik für die Seele." Und er freut sich auch darauf, Menschen von außen zu treffen.

Einzigartiges Projekt

Seit elf Jahren gibt es den Chor an der JVA. Im Unterschied zu anderen Gefangenenchören singen in Karlsruhe nicht nur Inhaftierte, sondern auch Ehrenamtliche. Weil dieses Projekt bundesweit einzigartig ist, ist es für den Publikumspreis des Deutschen Engagementpreises 2016 nominiert.

Ins Leben gerufen haben es der evangelische Gefängnisseelsorger Karl-Heinz Dümmig, sein katholischer Kollege Michael Drescher und Chorleiter Ralph Hammer. Mittlerweile ist in der JVA Offenburg ein ähnlicher Chor gestartet – gegründet auf Initiative von Gefangenen, die aus Karlsruhe nach Offenburg gekommen waren.

"Gott sei Dank ist dies keine Performance"

Über den Engagement-Preis für den Chor würde Karim sich freuen. "Die Leute haben es verdient", lobt er die Ehrenamtlichen. Im vergangenen Jahr hat der Chor bereits den baden-württembergischen Ehrenamtspreis "Echt gut" erhalten.

Einer der Ehrenamtlichen ist Eckhard Sültemeyer. Er sieht das Singen in der JVA als interessante menschliche Herausforderung: "Wir wissen nichts von den Gefangenen und sie nichts von uns", sagt er. Es gebe keinen Druck und kein Suchen nach Anerkennung oder Applaus: "Gott sei Dank ist dies keine Performance." Er freue sich über die Freude und die Offenheit der Gefangenen. Man spüre, dass sich bei ihnen etwas durch das Singen verändert.

Abwechslung im Gefängnisalltag

Der Chor beflügelt auch die Ehrenamtliche Ruth Zimmermann. "Wenn ich nach Hause gehe, klingt oft noch etwas nach: ein Lachen, die Begegnung, eine Liedzeile." Es mache Sinn, sich hier zu engagieren, sagt die Seniorin. Maximal zehn Ehrenamtliche und zehn Inhaftierte können mitmachen. Für den Inhaftierten Wolfgang ist das Singen eine gute Abwechslung im Gefängnisalltag. "Ich freue mich auf den Mittwoch", sagt er. Früher habe er im Volksliederchor gesungen. Das gemeinsame Singen beruhige und sei gut für die Seele. Für ihn sei es entscheidend, unter Leute zu kommen.

Ob Volkslieder wie "Heho, spann den Wagen an" im dreistimmigen Kanon, Kirchenlieder oder sogar Jazz: Das Besondere am Chor sei die Gemeinschaftserfahrung, sagt der evangelische Pfarrer Karl-Heinz Dümmig. "Die Gefangenen spüren: Ich bin nicht verlassen, auch wenn ich im Gefängnis sitze." Sein katholischer Kollege Drescher lobt den Einsatz der Ehrenamtlichen: "Sie kommen ins Gefängnis, nicht weil es ihr Job ist, sondern weil sie Interesse an den Gefangenen haben." Ein "gemischter Chor" im Knast überwinde Grenzen.

Nicht nur mit Musik, auch mit Humor und Gesprächen versucht Chorleiter Hammer, das Eis zu brechen. Er ist seit 26 Jahren Organist an der JVA. "Musik ist eine Schule der Emotionen", sagt er. Sie helfe den Menschen, ihre emotionale Mitte zu finden, weg von Extrempositionen. Mit einem Kirchenlied endet an diesem Mittwoch die Chorprobe: "Meine Zeit steht in deinen Händen".

Christine Süß-Demuth (epd)