"Satt ist nicht genug"

Predigt zum Start der 58. "Brot für die Welt"-Spendenaktion

26. November 2016

Möhren aus Brasilien. (Foto: Brot für die Welt/Florian Kopp)
Biomöhren – geerntet in Brasilien. (Foto: Brot für die Welt/Florian Kopp)

Die Theologische Redakteurin Veronika Ullmann predigt zum Text aus Jeremia 23,5-8:
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: "Der HERR unsere Gerechtigkeit". Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: "So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!", sondern: "So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte." Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.

Liebe Schwestern und Brüder,
Veronica und Nilo haben eine ähnliche Erfahrung in ihrem Leben gemacht: Beide – mit ihren jeweiligen Familien – leben von biologischem Anbau von Obst und Gemüse – und mittlerweile leben sie recht gut davon. Beide musste für dieses Leben eine mutige Entscheidung treffen und sich aus eingefahrenen Strukturen lösen. Beide leben im fruchtbaren Süden Brasiliens, im Bundesstaat Rio Grande do Sul.

Veronica ist eigentlich schon Seniorin, hilft aber noch viel mit im Familienbetrieb "Sabor da Colonia", der Marmelade, Kompott und Eingemachtes herstellt. Nilo ist Anfang 50 und bewirtschaftet seine eigene kleine Farm – besonders seine Pfirsiche sind auf den Märkten der Umgegend beliebt und verkaufen sich gut. Beide leben in der Nähe von Pelotas, einer Großstadt an der Atlantikküste, nahe der Grenze zu Uruguay. In ihrem Leben hat sich durch eine mutige Umstellung ihrer Arbeitsweise und ihrer Arbeitsverhältnisse sehr viel geändert.

"Der Tabakanbau hatte alles ruiniert"

Vor ungefähr 20 Jahren bauten beide Tabak an. "Die Arbeit war sehr mühsam und anstrengend", sagt Veronica. Auch der Einsatz der vielen chemischen Düngemittel und Pestizide brachte sie dazu, aufzuhören. "Der Tabakanbau hatte alles ruiniert", erzählt sie und spielt auf die Bodenbeschaffenheit an. Nilo hat in seinem Betrieb ähnliche Erfahrungen gemacht. Neben dem Tabak wuchsen auf seinem Land zwar schon Pfirsiche, aber in konventionellem Anbau. Ob er die Pfirsiche verkaufen konnte, entschied die Konservenfabrik, von der er abhängig war. Als er sich dann mit Spritzmitteln vergiftete und ins Krankenhaus musste, war auch für ihn klar, dass er auf biologische Landwirtschaft umstellen würde.

Der Boden auf dem Land von Veronicas Familie erholte sich wieder – aber sowohl die Familien von Veronica als auch die von Nilo brauchten Hilfe, damit sie von Anbau, Weiterverarbeitung und Verkauf ihrer Produkte leben konnten. Wären sie auf sich allein gestellt gewesen, wären sie untergegangen. Lange hat es für sie so ausgesehen, als ob sie keine Wahl hatten. Teil der ungerechten Struktur zu sein und kaum Kraft zu haben, dagegen etwas zu tun – Veronica und Nilo sind nur zwei von Millionen, die dies Schicksal am eigenen Leib erlitten haben.

Extremer Reichtum, extreme Armut

In Brasilien ist alles groß. Das Land selbst – 200 Millionen Einwohner – und alle Zahlen, die das Land beschreiben. Jedes Jahr werden Millionen Tonnen Soja, Mais und Getreide produziert. Brasilien ist zudem der drittgrößte Schweine- und Rinderproduzent der Welt, auf 23 Millionen Hektar Land wird Soja angebaut. Aber nicht nur die Landwirtschaft wächst, auch die Einwohnerzahl hat sich in den letzten Jahrzehnten nahezu verdoppelt. Das sind Zahlen, die man sich kaum bildlich vorstellen kann. Und die Schattenseiten?

Die sind auch groß! In keinem anderen Land auf der Erde werden so viele Pflanzenschutzmittel versprüht wie in Brasilien. Pro Jahr sind es mehr als eine Milliarde Liter. Der Einsatz von Gift ist also der Preis dieser riesigen Zahlen. Und die Menschen? Wie geht es denen? Ich stelle mir vor, ich schaute von oben auf die riesigen Felder ... kilometerweit keine Menschenseele? Um zu verstehen, wie die Menschen dort leben, müssen wir genauer hinschauen. Denn es gibt zwei Seiten: Extremen Reichtum und extreme Armut. Gerecht verteilt ist es nicht – trotzdem es in den letzten Jahren Fortschritte gab.

"Satt ist nicht genug"

Das Thema Ernährung in Brasilien gilt offiziell – auf der Weltbühne – als Erfolgsgeschichte: Im Jahr 2015 strich die UNO das Schwellenland erstmals von der Welthunger-Landkarte. Doch der Hunger ist noch da. Armut gibt es noch, sogar extreme Armut. Die Frage ist nicht nur, wie so viele Menschen in Brasilien satt werden, sondern vor allem, wovon sie satt werden. Das Land mit seiner Vielfalt und seinem natürlichen Reichtum bietet alles. Wie wird das genutzt, wie verteilt? Wie kann die Vielfalt der Schöpfung in guter Ernährung allen Menschen gleichermaßen dienlich sein?

Am 1. Advent eröffnen wir die Aktion Brot für die Welt – ganz traditionell. Mit der 58. Aktion legen wir mit "Satt ist nicht genug" den Schwerpunkt erneut auf die Qualität von Nahrung weltweit. Wir schauen einmal genauer hin. Wie wir auch in Brasilien schon genauer hingeschaut haben: Satt geworden? Ja! Aber wie? Es gibt viele Ursachen für schlechte Ernährung. Neben der Aufklärung ist es vor allem ein politischer Grund, warum Menschen sich nicht mit qualitativ guter Nahrung versorgen können. Es ist eine politische Verantwortung, wie das Erzeugen und Verarbeiten von Nahrung gestaltet wird. Wie werden Flächen verteilt, welche Anbaumethoden und Vertriebswege werden wie gefördert.

Sehnsucht nach einer gerechten Welt

Am 1. Advent feiern wir die baldige Ankunft eines Herrschers. Wir bereiten uns auf diese Ankunft vor – mit einigem Aufwand. Dabei denken wir in biblischen Texten und Liedern über die Art und Weise dieser "Herrschaft" nach. In unserem Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jeremia, der heute unser Predigttext ist, wird eine Sehnsucht formuliert, die radikaler kaum sein könnte. Die Sehnsucht nach einer gerechten Welt. Eine Welt, die von Gottes Gerechtigkeit geprägt ist. Eine Welt, in der Herrschende nicht einfach nach ihrem Gutdünken die Geschicke der Welt bestimmen. Sondern eine Welt, in der Gerechtigkeit herrscht, in der wir es miteinander schaffen, uns zu öffnen, aufeinander zu hören, Türen aufzumachen.

Und nun ist der 1. Advent dazu da, die Tür aufzumachen. Die Tür zur offenen Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit! Advent ist Erwartungszeit! Und Advent sagt: Mach dein Herz auf für diese Sehnsucht! Schiebt sie auseinander, die Hochsicherheits-Tore und lasst sie einziehen! Am Anfang eines neuen Kirchenjahrs richten wir unseren Blick voraus auf das Kommende. Und wir werden auch daran erinnert, was Menschen in früheren Zeiten von ihrer Zukunft erwarteten. Die Zeitgenossen des Propheten Jeremia zum Beispiel haben von ihrer Zukunft nicht viel Gutes erwartet, genauso wie viele Menschen unserer Zeit.

Gerechtigkeit – radikal anders

Jeremias Zeitgenossen im 6. Jahrhundert vor Christus hatten auch wenig Grund dazu: Sie wurden von der babylonischen Weltmacht bedroht und schließlich besiegt. Jerusalem, ihre geliebte Hauptstadt und der Ort des heiligen Tempels, wurde verwüstet, und ein großer Teil seiner Einwohnerschaft wurde verschleppt. Was soll man da noch für Zukunftshoffnungen haben, wenn einem alles kaputt gemacht wird und man gezwungen ist, fremden Herren zu dienen? Was soll man da noch für Zuversicht hegen, wenn offenbar Gott selbst besiegt wurde? Hätte Gott seinem auserwählten Volk nicht besser beistehen und vor allem seinen Tempel vor der Zerstörung bewahren können? Da trat Jeremia auf im Namen des Herrn und machte eine Ansage für die Zukunft: "Siehe, es kommt die Zeit...", sagte er.

Es kommt eine Zeit, da wird Gottes Volk geholfen werden und wieder sicher im eigenen Land wohnen können. Und Jeremia prophezeite: Diese wunderbare Zukunft ist mit dem Kommen eines besonderen Mannes verbunden. Es kommt der Spross Davids, der Nachkomme aus dem Königsgeschlecht David, der Davidssohn, der gerechte König, der den Ehrentitel tragen wird: "Der Herr unsere Gerechtigkeit". Was für eine Gerechtigkeit ist aber eigentlich gemeint? Die Gerechtigkeit Gottes ist radikal – und radikal anders als wir erwarten.

"Er stürzt die Gewaltigen vom Thron und erhöht die Niedrigen, die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen", so beschreibt das Magnificat der Maria das Anbrechen der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit Gottes bricht die von uns gemachten Strukturen auf zugunsten der Schwachen und Hungrigen. Von uns verlangt das ein Umdenken – denn das "Prinzip des Stärkeren" oder ein "Leistungsprinzip" reichen nicht mehr aus, sie führen in die Irre.

In die Zukunft gedacht

"Für mich liegt die Zukunft in der Rückbesinnung", sagt Veronica, die brasilianische Bäuerin. Und sie meint damit das Streben nach weniger Einsatz von Spritz- und Düngemitteln, nach biodiversem Anbau mit vielen Sorten auf einem Stück Land. Sie meint die Versorgung durch kleine landwirtschaftliche Betriebe, die Vielfalt garantieren – statt der Mega-Landwirtschaft mit ihren Monokulturen. Das ist ihr ganz persönliches Fazit nach einem langen Arbeitsleben in der Landwirtschaft. Schnell provoziert eine solche Aussage in uns ein Lächeln.

Das erscheint romantisch und vielleicht sogar wirklichkeitsfremd. Wenn man aber Veronicas und auch Nilos Geschichte genau bedenkt, ist es genau das Gegenteil, nämlich sehr realistisch und in die Zukunft gedacht. Sich schlechte Ernährung aufzwingen zu lassen, weil die Großkonzerne mit ihren Anbauflächen stärker sind? – Veronica und Nilo wussten es besser, entschieden sich und handelten anders – dank ihrer Erfahrung.

Das Beispiel aus Brasilien ist nur eines von vielen, das darüber Auskunft gibt, dass es sich lohnt, sich nicht von den vorherrschenden Verhältnissen niederdrücken zu lassen. Und gerade ein Beispiel aus dem Bereich Ernährung zeigt, wie sehr alles miteinander verwoben ist. Wie die Schöpfung, von der wir doch alle leben, von uns genutzt wird, um Macht auszuüben.  Und wie sehr die Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit einschließt, dass wir wieder "ganz" werden, wieder näher an den Ursprung des Lebens rücken statt weiter weg.

Arbeit, die sich lohnt

Brot für die Welt will mit den Projekten der 58. Aktion ganz klar politisch Stellung beziehen und zeigen, dass es anderer Strukturen bedarf, damit Menschen in Stadt und Land sich gesund ernähren können. Diese Strukturen reichen oft bis in höchste politische Ebenen. In Brasilien hat eine Organisation namens CAPA Kleinbauernfamilien wie denen von Veronica und Nilo geholfen, mit ihrem selbständigen biologischen Anbau gute Absatzmärkte zu haben. CAPA hat in drei brasilianischen Bundesstaaten ein Netzwerk aufgebaut, das Bio-Kleinbetriebe unterstützt und zusichert, dass die angebauten Lebensmittel vielfältig zum Einsatz kommen.

CAPA hat erreicht, dass es gesetzlich festgeschrieben ist, dass 30 Prozent der Lebensmittel für die öffentliche Schulspeisung aus der regionalen, kleinbäuerlichen Landwirtschaft stammen müssen. CAPA wird von Brot für die Welt unterstützt. In den Betrieben der Familien von Veronica und Nilo arbeitet die ganze Familie mit. Und auch die Jüngsten sehen, dass sich die Arbeit lohnt.

Ein Leben mit guten Bedingungen und Strukturen

Sie haben weniger Grund, wegzuziehen und sich weit weg von zu Hause Arbeit suchen zu müssen. "Sie sollen in ihrem Lande wohnen", steht bei Jeremia. Das hat der Prophet einst seinem Volk verheißen. Für die Familien in Südbrasilien und überall auf der Welt heißt es übersetzt: Wagt es, andere Wege zu gehen und einer anderen Gerechtigkeit zum Leben zu verhelfen! Denn diese Wege führen zum Leben – zu einem Leben, das nicht zwingt, weg gehen zu müssen. Ein Leben, das gute Bedingungen und Strukturen findet, sich darum voll entfalten kann und damit gelingt.

Aller Wandlung Beginn ist die Sehnsucht. Das Wort des Propheten Jeremia weist unserer Sehnsucht ihren Heimatort zu. Von dort aus können wir aufbrechen. Mit guter Hilfe und neuen Strukturen können wir die Tore, die wir heute aufmachen, auch offen lassen, auf das Gutes und Gerechtigkeit Wege finde und ströme.

Veronika Ullmann (Brot für die Welt)


Die Übertragung des ARD-Gottesdienstes zur Eröffnung der 58. Spendenaktion von "Brot für die Welt" beginnt am Sonntag, 27. November 2016 um 10:00 Uhr.