Brief an Martin Luther

Eckart von Hirschhausen schreibt an Luther – über Medizin, Kirche und Kranke

25. November 2016

Eckart von Hirschhausen mit roter Nase. (Foto: GEP)
Eckart von Hirschhausen hat zur Challenge "500 Lachen schenken" eingeladen. (Foto: GEP)

Lieber Martin Luther,

darf ich mich kurz vorstellen: Mein Name ist Eckart von Hirschhausen, ich bin Arzt. Von unserem Berufsstand hast Du nie viel gehalten, das weiß ich: "Schlecht ist einer dran, wenn er auf ärztliche Hilfe ange­wiesen ist." Noch schlechter hast Du ­eigentlich nur über Theologen geredet. Und Juristen. Gut, dass Du keiner ge­worden bist, so wie Dein Vater das wollte.

Ich mag Deine Idee, dass, was die ­Menschen angeht, auch für Menschen verständlich sein soll. Du hast das Kirchenlatein übersetzt und warst mir damit ein Vorbild, dies mit dem Ärztelatein Dir gleichzutun. Du warst Wegbereiter für die innere Freiheit, für Bildung und den Mut, sich für seine Meinung einzusetzen. Wir brauchen Dich mal wieder auf der Erde! Mensch, Martin, hat Dich eigentlich jemand zu den Reformationsfeierlichkeiten 2017 eingeladen? Oder wurde das in der Hektik vergessen? Ich wüsste gerne, was Du uns heute zu sagen hättest. Vielleicht ­gäbe es auch noch einen Platz für Dich als Reformationsbotschafter, das würde vielleicht gar nicht auffallen.

Was Du damals nicht wissen konntest: Inzwischen haben die Ärzte viele Auf­gaben der Theologen übernommen. Was man zu Deiner Zeit noch mit Gott und dem Pfarrer ausgemacht hat, verhandelt man heute mit seinem Palliativmediziner und der Krankenkasse. Du warst Vorreiter der Aufklärung und der wissenschaft­lichen Revolution, was die Heilkünste ­enorm nach vorne gebracht hat. Allerdings ging auf dem Weg der Geist verloren, ­sogar in den konfessionellen Kranken­häusern.

Heute lauert der Teufel hinter jeder Darmwindung

Der Mammon hat die Medizin voll im Griff. Ein Hospital war ja mal gedacht vom Wort her als ein Ort für Gäste. Und die Bezeichnung "Charité" für das größte Krankenhaus Europas kommt ja nicht von "Shareholder Value", sondern von ­Caritas, der Nächstenliebe. Dass Mitgefühl, Zuwendung und Hoffnung der Kern der abendländischen Medizin waren, weiß heute kaum einer mehr, und es kommt in den "Fallpauschalen" auch nicht vor. Das Wort kannst Du nicht kennen, es ist der Ablasshandel der Mediziner mit den Kassen und führt zu ähnlichem Unsinn an Fehlanreizen wie zu Deiner Zeit. Und wie damals sind die Leidtragenden die Menschen, über deren Köpfe hinweg Dinge entschieden werden, die sie angehen.

Wie ich gerade durch den Kirchengeschichtler Volker Leppin lernen durfte, ist das mit Deinem Anschlag ja gar nicht so wahnsinnig gut belegt. Und Du warst ja auch Kind Deiner Zeit und tief verankert in der mittelalterlichen Mystik, hattest also einen Sinn für das Unsagbare und die Kraft der Stille, während wir Dich nur kennen als den Mann der starken Worte: "Die Ärzte sind unseres Herrgotts Menschenflicker." Das klingt wie der Witz: Was ist der Unterschied zwischen Gott und einem Chirurgen? Gott hält sich nicht für einen Chirurgen.

Noch ein Wort, das viele von Dir kennen: "Aus einem traurigen Arsch kommt kein fröhlicher Furz!" Heute traut sich keiner mehr, über so einen Spruch zu lachen, weil jeder Angst hat, einer in der Runde könnte gerade "Laktoseintoleranz" an sich entdeckt haben. Mit Laktoseintoleranten muss man sehr tolerant sein! Und auf jeden, der das hat, kommen zehn, die sich die einreden lassen. Dafür blüht der Ablasshandel mit Weglass-Lebensmitteln: ohne Gluten, ohne Zucker, ohne Fett und ohne Freude! Denn der perfekte schlanke Körper ist den Menschen zum Götzen geworden.

Sie kaufen sich alles, auf dem "Vitamine und Anti­oxidantien" draufsteht, weil sie sich erhoffen, damit die Kalorien im Fegefeuer schneller zu verbrennen und den Teufel von Sahnetorten und geteerten Lungen zu vertreiben. Sie machen "Detox-Kuren" und machen Einläufe mit Kaffee, weil sie den Satan hinter jeder Darmwindung wittern. Immer weniger Deutsche glauben an Gott. Ich hoffe, es beruht nicht auf Gegenseitigkeit.

Stehen Wunder nicht im Gegensatz zur Naturwissenschaft?

Hast Du das damals wirklich gemeint? Hast Du das gewollt? Du wolltest das ­Geschäft mit der Angst vertreiben. Als Du merktest, dass in Deiner Abwesenheit Deine Mitstreiter alle Bilder entfernten und die Liturgie umkrempelten und die Menschen im Gottesdienst gegen sich aufbrachten, hast Du die Wartburg verlassen und sie mit einer Predigt wieder beruhigt: "Brauchen nicht alle Menschen eine Kindheit, in der sie liebevoll von der Mutter mit weicher Nahrung aufgezogen werden? Verlangt denn eine Mutter von ihren Kindern, dass sie sofort erwachsen werden müssen?" Den Wittenbergern alles Ge­wohnte zu entziehen wäre Dir "lieblos" und daher unchristlich und auch sinn­los vorgekommen.

Früher war es irgendwie einfacher. Da haben die Menschen an Wunder geglaubt und fertig. Zum Beispiel daran, dass Jesus über Wasser laufen konnte. Und heute? Stehen Wunder nicht im Gegensatz zur Naturwissenschaft? Die Festkörperphysik sagt: Jeder Mensch kann über Wasser laufen – entscheidend ist die Außentemperatur.  

Die Wissenschaft hat die Magie aus der Medizin vertrieben, aber nicht aus uns Menschen. Und je nüchterner und wortkarger die Ärzte daherkommen, desto mehr treiben sie die Menschen dorthin, wo mehr gesprochen, mehr versprochen und mehr berührt wird: in den ganzen schillernden Bereich der Alternativmedizin.

Der Meister fragte nicht: Bist du denn krankenversichert?

Und so ergeht es auch Deiner evangelischen Kirche: Je nüchterner und abstrakter die Protestanten daherkommen, desto weniger fühlen Menschen sich da in all ihren Nöten verstanden und aufgehoben. Sie stimmen mit den Füßen ab und gehen mit ihrer Frömmigkeit lieber zur Irisdiagnostik, weil ihnen da jemand in die Augen schaut, oder zum Homöopathen, weil sie da ganzheitlich gesehen werden. Und dass die Alternativmedizin ein Religionsersatz ist, merkst Du spätestens, wenn Du mal ihre Wirksamkeitsnachweise hinterfragst.

Sag mal bei einem gemütlichen Abendessen ­unter Freunden, dass Homöopathie auf einer sehr guten Kombination psychologischer Prinzipien beruht und nicht auf den Kügelchen, dann schicken die Dich so humorlos in die Verbannung wie Dich damals auf die Wartburg. Die Menschen suchen mehrheitlich heute weder ihr ­Seelenheil in der Kirche noch ihr körperliches Heil in der Medizin. Die Reformation des Herzens – am inwendigen Menschen –, damit hast Du doch nicht die Herzkatheter-untersuchung gemeint. So wie Du zu Recht gegen Ablass und Aberglauben gekämpft hast, haben Deine Mitstreiter und Nachfolger vergessen, dass dahinter ein legitimes Bedürfnis nach Verzauberung steckte. Und nach sozialer Unterstützung.

Im Markusevangelium wird erzählt, dass Jesus in Kapernaum in einem Haus predigt und so viele zuhören wollen, dass kein Platz ist, auch nicht draußen vor der Tür. Ein Gelähmter wird von vier anderen auf einem Bett angeschleppt, und da sie ihn nicht zu Jesus bringen können, steigen sie Jesus buchstäblich aufs Dach. Sie machen ein Loch und lassen das Bett hinunter, auf dem der Gelähmte liegt. Als nun Jesus ihren Glauben sieht, spricht er "zu dem ­Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen..." Ich stell mir das gerade in einer Kassenarztpraxis vor, wenn ein gesetzlich Versicherter über Wochen keinen Termin bekommt und dann den Doktor überrascht, weil er mit seinen Kumpels durch die Decke kommt. Dann schaut der Arzt mal auf und die Freunde sind im wahrsten Sinne herablassend.

Jesus erkennt als Erstes den Glauben der Helfer an, nicht mal den des Kranken. Damit drückt er aus, dass jemand, der von vier Seiten so tatkräftige Unterstützung hat, die besten Voraussetzungen mitbringt, wieder gesund zu werden. Der Meister fragt nicht, wie das passiert ist, wie der Patient versichert ist, noch nicht einmal, wie er sich fühlt. Er spricht einen Satz, der Kranke steht auf und geht mit seinem Bett nach Hause.

Wo hat körperliches Leid noch einen Platz in der Amtskirche?

Du, Martin, warst offenbar ein Naturtalent der Verkündigung, glaubhaft, weil Du ein "wounded healer" warst, wie die Schamanen das nennen. Du hattest selber Krankheiten und Krisen durchgemacht und konntest deshalb anderen von Deiner Erfahrung etwas mitgeben. Aber wo hat körperliches Leid noch einen Platz in der Amtskirche?

Mein Nachbar André ist ein echtes Vorbild für mich. Er hat Darmkrebs, dabei ist er erst Mitte 30. André hat alles getan für seine Heilung, er kombiniert die wissen­schaftliche Medizin – Operation, Chemotherapie und Bestrahlung – mit allem, was er sonst noch für sich als günstig heraus­gefunden hat. Ich habe ihn einmal begleitet zu einem Heilungsgottesdienst in der Eifel, wo ich erlebte, wie eine Gemeinschaft einen positiv tragen kann. Jeder durfte einen Zettel ausfüllen mit seinem Anliegen. Allein die Tatsache, dass jeder für sich formuliert, wofür man sich Hilfe wünscht, ist schon eine Hilfe. Die Körbe mit den vielen Wünschen standen vor dem Altar, zusammen mit vielen Kerzen. Es wurde viel gesungen und gebetet.

Ein echter Gänsehautmoment war, als jeder erst seine Hände auf das eigene Herz legte und dann die Handflächen nach außen drehte, um allen anderen im Raum etwas Gutes zu wünschen. Insgeheim fragte ich mich natürlich, warum man über Hunderte Kilometer in die Pampa fahren muss, um so einen Gottesdienst zu erleben, wenn es im Umkreis von fünf Kilometern fünf Gemeinden gibt. Natürlich ist es unseriös zu sagen: Bete und alles wird wieder gut. Noch schlimmer ist: Du bist krank ge­worden, weil Du nicht gebetet hast. Aber es muss doch eine Form geben, die verantwortlich und fürsorglich ist!

Von der Kanzel wird vorgelesen, wer gestorben ist. Für wen ist das wichtig? ­Wäre es nicht wichtiger zu sagen, wer krank geworden ist, wer sich über Besuch be­sonders freut, wer um Beistand bittet? Dafür gibt es doch Gemeinde, und jemanden, der drei Türen weiter wohnt. VOR der Bestattung füreinander da zu sein ist logistisch und menschlich naheliegender.

Kein Wunder für den, der sich nicht wundern kann

So wie Du das Priestertum aller Gläubigen begründet hast, gibt es auch ein "Heilertum" aller Gläubigen, nicht als Aufforderung zur Selbstüberschätzung, aber wir haben alle "heilende Hände", wenn wir anpacken, jemandem die Hand halten oder auf die Schulter klopfen.

Vielleicht ist Dein großes Jubiläum ja ein guter Moment, eine kleine "Gegenreformation" zu starten: zu mehr Mit­einander und Füreinander, mehr Sinnlichkeit und Körperlichkeit in der Kirche und mehr Ekstase und unbändiger Freude am Leben. Ja, wir werden alle eines Tages sterben. Aber an allen anderen Tagen eben nicht! Und wenn es eine frohe Botschaft gibt, sollte man das den Menschen, die sich auf sie berufen, auch anmerken, oder?

Es gibt kein Wunder für den, der sich nicht wundern kann. Vielleicht ist das ganze Leben wie eine Wunderkerze – es brennt ab, so oder so – wundern müssen wir uns selber.

Bin gespannt auf Deine Antwort, Du weißt ja, wie Du Menschen erreichst ;-)

Dein Eckart von Hirschhausen (für chrismon.de)