Venedig – katholischer als Rom?

Wie die Reformation Italiens Handelsstadt erreicht hat

21. Oktober 2016

Stadtkarte von Venedig aus dem 16. Jahrhundert.
Stadtkarte von Venedig aus dem 16. Jahrhundert. (Foto: s.unten)

Das Themenjahr "Reformation und die eine Welt" hat aufgezeigt, dass sich Reformation weder linear noch lokal, sondern gleichzeitig, vielfältig und weltweit abgespielt hat – und das auch weiterhin tut. Im Vorfeld der EKD-Synode unter dem Schwerpunktthema "Europa in Solidarität – Evangelische Impulse" fokussieren wir den Blick noch mal auf Europa. Zum Beispiel Venedig, heute Reformationsstadt Europas, früher treues Gefolge Roms? Wie haben sich die reformatorischen Ideen hier verbreitet?

Obwohl Venedig sich rühmte, genauso katholisch zu sein wie Rom, wenn nicht sogar noch katholischer, blickte es auf eine jahrhundertealte Tradition von Konflikten mit dem Apostolischen Stuhl zurück, die vor allem durch Streitigkeiten über Herrschaftsgebiete und Kompetenzbereiche verursacht wurden. Eine stark antiklerikale Haltung zog sich durch alle Schichten der venezianischen Gesellschaft und war insbesondere bei den Familien der herrschenden Klasse der Republik, dem Patriziat, sehr ausgeprägt. Viele Venezianer lasen Erasmus und praktizierten eine schlichte Frömmigkeit, die den Lehren des Paulus und Augustinus weitaus näher stand als der pompösen katholischen Volksfrömmigkeit. Es herrschte eine große Sehnsucht nach radikaler Erneuerung, die die römisch-katholische Kirche näher an das Evangelium binden könnte.

Daher war das religiöse Klima in Venedig zu Beginn des 16. Jahrhunderts günstig für eine schnelle Aufnahme der neuen Lehre der Reformation. Zuerst fand die Botschaft Martin Luthers Gehör, dessen Schriften ab 1520 auf große Zustimmung in der Lagunenstadt stießen, später dann die Botschaft der Schweizer Reformation und die der radikalen Strömungen der Reformation, insbesondere der Täufer.

Die altgläubige kirchliche Führungsschicht in Venedig wurde aufgeschreckt: 1524 wurde das Lesen oder der Besitz heterodoxer Literatur mit der Exkommunikation bestraft und im selben Jahr, sowie nochmals 1527, wurden Schriften von Luther und anderen Reformatoren öffentlich verbrannt. Trotz dieser Maßnahmen befanden sich auch weiterhin verbotene Bücher im Umlauf und wurden von den Sympathisanten der neuen Lehre in kleinen Gruppen diskutiert. Diese Gruppen entwickelten sich in einigen Fällen zu richtigen Glaubensgemeinschaften – in manchen Quellen aus dieser Zeit sogar als ecclesiae bezeichnet – die allmählich begannen, ein geheimes Netzwerk aufzubauen. In den 1520er und 1530er Jahren nutzten philoprotestantische Prediger, in der Mehrzahl Mönche, die Kanzeln in Venedig und in den von der Republik beherrschten Gebieten, genauso wie im restlichen Italien, um die Menschen zur neuen Lehre zu bekehren.

Bartolomeo Fonzio und die Frühphase des "Lutheranismus" in Venedig

Zu diesen Predigern zählte auch der Franziskaner Bartolomeo Fonzio (geboren ca. 1502 in Venedig, 1562 dort gestorben), der schnell als "lutherisch" angesehen wurde und dessen Predigten besonders bei den deutschen Händlern im Fondaco großen Anklang fanden. Nach seiner Flucht über die Alpen ließ sich Fonzio in Augsburg nieder, von wo aus er 1531/32 mit Martin Bucer und Girolamo Marcello korrespondierte, einem Adeligen, der Mitglied einer venezianischen ecclesia war. In seinen Briefen an Marcello beschrieb Fonzio im Detail die komplexe religiöse Lage in Augsburg und machte kein Geheimnis aus seiner Abneigung gegenüber dem damaligen Streit über die Lehre vom Abendmahl. Auch schrieb er von seiner Hoffnung auf eine Versöhnung der verschiedenen Strömungen innerhalb der Reformationsbewegungen. Selbst sympathisierte er eindeutig mit den Zwinglianern. Entweder Marcello oder ein anderer venezianischer Adeliger gab Fonzio die italienische Übersetzung von Luthers An den christlichen Adel deutscher Nation in Auftrag. Seine Übersetzung war sehr frei und enthielt viele Einschübe für die italienische und speziell die venezianische Leserschaft. Sie erschien 1533 anonym in Straßburg und wurde bald ein Bestseller in Venedig. Der Apostolische Nuntius Hieronymus Aleander beschwerte sich darüber, dass sogar einfache Leute das Buch lasen, bei denen es die gleiche Begeisterung auslöse wie ein Ritterepos. Anfang 1534 kehrte Fonzio nach Venedig zurück und traf sich mit seinen Freunden aus der ecclesia, die er mit heterodoxer Literatur versorgte. 1537/38 wurde er in Rom wegen Häresie vor Gericht gestellt, allerdings kam es nicht zu einer Verurteilung. […]

Bartolomeo Fonzio als geheime heterodoxe Führergestalt

Die letzte Lebensphase von Bartolomeo Fonzio steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der heterodoxen Strömungen im Venedig der 1550er Jahre. Da mittlerweile deutlich geworden war, dass die Behörden religiösen Nonkonformismus nicht mehr tolerieren würden, gaben die Dissidenten die öffentliche Debatte auf und organisierten sich in Netzwerken aus geheimen Konventikeln. Fonzio war der Förderer und geistliche Führer solcher Netzwerke in venezianischen und lombardischen Gebieten. Der ehemalige Franziskaner war in der venezianischen "Terraferma", in Padua und Cittadella, auch als Lehrer an Schulen tätig. Dieser Beruf war bei Philoprotestanten sehr beliebt, da er ihnen die Möglichkeit bot, Proselyten zu gewinnen.

In der Republik Venedig war die heterodoxe Bewegung aus theologischer Sicht sehr heterogen, und sie blieb das bis zum Schluss. Obwohl die Dissidenten allesamt als "Lutheraner" bezeichnet wurden, waren die meisten von ihnen tatsächlich eher Anhänger der Schweizer als der lutherischen Reformation. Viele andere von ihnen, insbesondere die Mitglieder der unteren sozialen Schichten, schlossen sich begeistert der Täuferbewegung an. Diese Entwicklung erreichte 1550 ihren Höhepunkt, als in Venedig eine geheime täuferische "Synode" organisiert wurde, die den Sieg des antitrinitarischen Flügels der Bewegung ausrief.

Auch Bartolomeo Fonzio war in dieser Zeit den Täufern oder besser gesagt: der sogenannten "radikalen Reformation" zugetan. Nachdem er vor der venezianischen Inquisition als Verfasser häretischer Schriften denunziert worden war, wurde er Ende Mai 1558 in Cittadella festgenommen und in Venedig inhaftiert. Der Prozess zog sich über vier Jahre hin und endete schließlich mit einem Todesurteil für den früheren Franziskaner. Fonzio erwog zuerst, seinen "Irrtümern" abzuschwören, wozu ihn viele seiner gesellschaftlich angesehenen venezianischen Freunde drängten, schließlich nahm er jedoch das Urteil an. Vor seiner Hinrichtung am 4. August 1558 schaffte er es noch, seine Schriften an einem sicheren Ort zu verstecken. Sie zeichnen ihn als einen der wichtigsten "religiösen Dissidenten" im Italien der Reformationszeit aus. […]

Gibt es heute noch Spuren des "lutherischen" Venedig?

Da der "Lutheranismus" in Venedig eine Untergrundbewegung war, hat er keine oder nur wenige Spuren in der Stadt hinterlassen. Der Fondaco dei Tedeschi befindet sich allerdings noch immer in der Nähe der Rialtobrücke, mit Blick auf den Canal Grande. Hier durften die protestantischen deutschen Händler ihre Gottesdienste mit stillschweigendem Einverständnis feiern, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sie unter sich blieben und nicht versuchten, andere zu bekehren. Dennoch fanden im Fondaco gelegentlich geheime Treffen mit venezianischen "Lutheranern" statt.

Da das Gebäude restauriert wird, kann es derzeit nur von außen besichtigt werden. Ende 2016 wird es aber voraussichtlich wieder der Öffentlichkeit zugänglich sein. Zu den Orten, die mit den Repressalien der Inquisition im Zusammenhang stehen, gehören die St. Theodors-Kapelle und die sogenannten "Pozzi". In der Kapelle des Heiligen Theodor hielt die Inquisition ihre Sitzungen ab, aber es gibt nichts in diesem Gebäude aus dem 15. Jahrhundert, das zum Markusdom gehört und in der Regel nicht der Öffentlichkeit zugänglich ist, das noch an die Tätigkeit der Inquisitoren erinnert. Die Pozzi (dt. Brunnen), die ihren Namen der Tatsache verdanken, dass sie dunkel, eng und feucht waren, wurden vom Rat der Zehn im Dogenpalast als Gefängnisse genutzt. Oftmals wurden hier Gefangene der Inquisition eingesperrt – einer von ihnen, Giacomo Broccardo, der aus Piemont stammte, hat uns in seinem Werk Mystica Et Prophetica Libri Geneseos Interpretatio (Bremen 1585) seine Erinnerungen an seine Gefangenschaft im Jahre 1568 hinterlassen. Die Pozzi können im Rahmen einer Führung "Die geheimen Wege des Dogenpalastes" besichtigt werden.

Das heutige "protestantische" Venedig

Heutzutage gibt es in Venedig drei protestantische Kirchengebäude: Erstens die lutherische Kirche. Sie wurde 1813 eröffnet und befindet sich in einem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, dem früheren Sitz einer katholischen Bruderschaft am Campo Santi Apostoli wenige Minuten von der Rialtobrücke entfernt. Sie beherbergt verschiedene wertvolle Kunstwerke, darunter ein Christusgemälde, das von Tizian stammen soll und ursprünglich für den Fondaco dei Tedeschi bestimmt war, sowie ein Lutherporträt von Cranach.

Zweitens die waldensische Kirche, seit 1977 waldensisch-methodistische Kirche. Sie wurde 1867 eröffnet, ein Jahr nach der Annexion Venetiens durch das Königreich Italien; seit 1868 befindet sie sich im Palazzo Cavagnis, der im 17. Jahrhundert im Stadtteil Castello erbaut wurde, nur unweit des Markusplatzes. Drittens die anglikanische Kirche. Sie wurde 1892 in einem ehemaligen Lagerhaus am Campo San Vio in der Nähe der Accademia eröffnet.

Federica Ambrosini

Weiterführende Literatur

Oswald, Stefan, Die Inquisition, die Lebenden und die Toten. Venedigs deutsche Protestanten, Sigmaringen 1989
Martin, John, Venice’s Hidden Enemies. Italian Heretics in a Renaissance City, Berkeley u. a. 1993
Ambrosini, Federica, Storie di patrizi e di eresia nella Venezia del ’500, Milano 1999

Bildnachweise

1. Braun, Georg [Hrsg.], Hogenberg, Franz [Hrsg.]: Civitates orbis terrarvm (1): Civitates Orbis Terrarvm — Köln, 1593. S. 43a. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/braun1593bd1/0113
2. By Giacomo Frácho [Public domain], via Wikimedia Commons
3. By Jean Duplessis-Bertaux (1747-1819), [Public domain], via Wikimedia Commons


Der gekürzte Text ist entnommen aus:

Europa reformata. Reformationsstädte Europas und ihre Reformatoren
Herausgegeben von Michael Welker, Michael Beintker und Albert de Lange. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2016, 504 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 
ISBN 978-3-374-04119-0, 29,90 Euro (D)

 

Dr. Federica Ambrosini war bis 2014 Professorin für die Geschichte der Neuzeit und der Republik Venedig an der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Universität Padua.