Offen und ökumenisch gesinnt

Protestanten im Nahen Osten erfüllen eine wichtige Mittlerfunktion

27. September 2016

Gläubige vor der evangelischen Kirche  in der Bekaa-Ebene (Libanon)
Gläubige vor der evangelischen Kirche in der Bekaa-Ebene (Libanon). (Foto:epd-Bild/Martina Waiblinger)

Mit ihrer Bildungs- und Sozialarbeit haben evangelische Einrichtungen im Nahen Osten lange Zeit Maßstäbe gesetzt. Heute stellt aber der anhaltende Exodus aus der Region die Frage nach der Zukunft des dortigen Protestantismus. In der nahöstlichen Ökumene jedenfalls würde ein wichtiger Akteur fehlen, der heute mehr denn je gebraucht wird.

„Es kommt nicht darauf an, wie viele wir sind. Wichtig ist, wie gut wir unsere Arbeit machen und was wir für unsere Gesellschaft tun.“ Lange gehörte dieser Satz zum Standardrepertoire evangelischer Kirchenleiter aus dem Nahen Osten, wenn sie auf die geringen Mitgliederzahlen in ihren Kirchen angesprochen wurden. Und im Unrecht waren sie mit dieser Aussage nicht: Der Einfluss evangelischer Christen auf die Gesellschaften im Nahen Osten ist über die Jahrzehnte immer wesentlich größer gewesen als ihr Anteil an der Bevölkerung vermuten ließ. Evangelische Christen sind immer die kleinste aller christlichen Minderheiten in der Region gewesen. In Palästina, im Irak, in Syrien oder in Jordanien schaffen sie es heute gerade noch in den vierstelligen Bereich. Eine Ausnahme stellt nur das bevölkerungsreiche Ägypten dar, wo evangelische Christen mit 700.000 Gläubigen gleich an zweiter Stelle nach den Koptisch-Orthodoxen kommen.

Missionarisches Wirken erzeugt Spannung

Das konfessionelle und religiöse Umfeld, in dem sich die nahöstlichen Protestanten behaupten müssen, könnte dagegen kaum vielfältiger sein. Nirgendwo sonst auf der Welt leben so viele Konfessionen und Religionen nebeneinander. Allein der kleine Libanon zählt 18 verschiedene Denominationen und Glaubensrichtungen. Und die evangelische ist dabei nicht nur die kleinste, sondern auch die jüngste. Der Protestantismus ist im Nahen Osten gerade mal 170 Jahre alt.

Dass es überhaupt evangelische Kirchen im Nahen Osten gibt, ist vor allem amerikanischen Missionaren zu verdanken, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Orient gingen, um den Menschen dort das Evangelium zu bringen. Unter Muslimen hatten sie so gut wie keinen Erfolg, dafür aber unter den einheimischen orthodoxen und katholischen Christen. Einigen gefiel die neue Lehre mit ihrer Konzentration auf die Bibel und die Idee von der Eigenverantwortung vor Gott so gut, dass sie die ersten evangelischen Kirchen gründeten. Den orthodoxen, orientalischen oder katholischen Mutterkirchen passte das überhaupt nicht. Der berechtigte Vorwurf, die evangelische Christen würden ihnen Mitglieder stehlen, stand lange im Raum und vergiftete das Klima zwischen neuen und alten Kirchen.

Brücke zum Islam

Die Missionare brachten aber noch etwas Anderes mit: den Bildungsgedanken. Sie gründeten Schulen, bauten Universitäten und öffneten diese für Mädchen, was allein schon eine kleine Revolution war. Ihre Krankenhäuser und Bildungseinrichtungen zählen noch heute zu den besten in der Region. Selbstverständlich bieten sie ihre Dienste nicht nur Christen, sondern auch Muslimen an. Alles andere wäre in dieser ausgeprägten Minderheitensituation auch finanzieller Selbstmord.

Das Wirtschaftliche ist aber nicht der einzige Grund für die Offenheit anderen gegenüber. In ihrem Selbstverständnis sehen Protestanten sich gerne als Brücke zum Islam und als Bindeglied zwischen Orient und Okzident. Und es dürfte nicht übertrieben sein zu behaupten, der Nahe Osten wäre ein anderer, wären damals nicht die Missionare gekommen und hätten den reformatorischen Gedanken mitgebracht.

Der Stolz, mit dem evangelische Kirchenleiter lange Zeit von Klasse statt Masse gesprochen haben, ist mittlerweile aber einem Ton der Verunsicherung gewichen. Durch die schon seit Jahren andauernde Auswanderung lichten sich die Reihen der Protestanten mehr und mehr. Mit ihrem generell hohen Bildungsstand haben es evangelische Christen aus dem Nahen Osten leicht, im Westen einen Studienplatz, ein Praktikum oder eine Anstellung zu finden. Zurück bleiben vor allem die Alten – und irgendwann spielen Mitgliederzahlen dann doch eine Rolle. Denn wie soll die Arbeit weitergehen, wenn bald niemand mehr da ist, der sie tun kann? Wie kann zum Beispiel noch kirchliche Jugendarbeit aussehen, wenn fast alle ihre Zukunft im Ausland planen? Was ist, wenn kaum einer mehr Theologie studieren will? Die Zukunft des Protestantismus steht in Frage.

Wichtige ökumenische Akteure

Wie aber würde der Nahe Osten ohne Protestanten aussehen? Im Bildungsbereich haben Katholiken und Orthodoxe längst aufgeholt. Ihre Schulen sind genauso attraktiv wie die ihrer evangelischen Geschwister. Auch im Bereich der Diakonie kann nicht mehr von einem evangelischen Alleinstellungsmerkmal die Rede sein. Was also würde fehlen, wenn der Auswanderungstrend weiter anhält und es im Nahen Osten irgendwann einmal keine Protestanten mehr geben sollte?

Für den maronitischen Theologen Gaby Hachem, der an der Université du Saint Esprit in Kaslik (Libanon) lehrt, würde viel für die Ökumene im Nahen Osten verloren gehen. Nicht nur, weil dann eine Gruppe unter vielen fehlen würden. „Den Protestanten muss bewusst sein, dass sie neben ihrem Dienst für die Gesellschaft allein schon aufgrund ihrer Präsenz hier wichtig sind“, sagt Hachem und führt aus, dass er ihre Rolle als ökumenische Akteure für besonders wichtig hält.

Die Vielfalt der Konfessionen wird in dieser Region oft mehr als Bürde denn als Segen empfunden. Lieber wurschteln die größeren unter den nahöstlichen Kirchen allein vor sich hin, als sich mit anderen zusammenzutun. Je kleiner aber die Kirche, desto wichtiger wird für sie die Zusammenarbeit mit anderen. Für die evangelischen Kirchen ist die Ökumene seit langem existenziell. Entsprechend stark engagieren sich die Kirchenleitungen in diesem Bereich und bringen immer wieder erfolgreich die unterschiedlichsten Gesprächspartner an einen Tisch.

Was dem Maroniten Hachem und auch anderen Theologen Sorgen bereitet, ist die wachsende Zahl neu-evangelikaler Gruppen, die – mit finanzieller Rückendeckung insbesondere aus den USA – auch im Nahen Osten an Boden gewinnen. Diese Gruppen sind sich oft selbst genug und wollen mit anderen Kirchen nichts zu tun haben. In einer Mehrheitssituation wäre dies vielleicht kein allzu großes Problem. Als Minderheit geraten die Christen im Nahen Osten aber insgesamt schnell unter Druck, wenn eine kleine Gruppe aus dem ökumenischen Konsens ausschert, aktiv unter Muslimen missioniert und lauthals verkündet, dass es nur eine wahre Religion – nämlich die christliche – gibt.

Es ist kein Spezifikum des Nahen Ostens, dass die Mehrheit der Bevölkerung – in diesem Fall die muslimische – dann dazu neigt, eine religiöse Minderheit, die Christen, für die Taten einzelner verantwortlich zu machen. Umso wichtiger werden deshalb die evangelischen, ökumenisch gesinnten Christen im Nahen Osten, die noch am ehesten den Kontakt zu den neu-evangelikalen Gruppen aufnehmen könnten. „Sie sollten diesen neuen Bewegungen gegenüber eine Brückenfunktion einnehmen, sie an der Hand nehmen und in die Ökumene führen“, meint Hachem, dem die Größe dieser Aufgabe sehr wohl bewusst ist. „Wir alle wissen, dass es dazu viel Mut und Ermutigung braucht.“

Katja Dorothea Buck


Katja Dorothea Buck ist Religionswissenschaftlerin und Politologin und arbeitet seit vielen Jahren zum Thema Christen im Nahen Osten.