"Immer ein wenig quer zur Gesellschaft"

Der Dresdner Pfarrer und Friedensaktivist Christof Ziemer wird 75 Jahre alt

27. August 2016

Pfarrer Christof Ziemer
Christof Ziemer gehörte zu den wichtigsten Protagonisten der Wendezeit in Sachsen. (Foto:epd-Bild/Matthias Rietschel)

Als Prediger mit Charisma, Begleiter, Vermittler und Visionär war er mittendrin: Christof Ziemer, 1980 bis 1992 Superintendent in Dresden, gehört zu den wichtigsten Protagonisten der Friedlichen Revolution in Sachsen. Dafür wird er in Dresden, das ihm 2003 die Ehrenbürgerschaft verliehen hat, bis heute verehrt. Am 28. August wird Ziemer 75 Jahre alt. Von Dresden ist er inzwischen weit entfernt: Seit 2013 lebt der evangelische Theologe im Ruhestand in Sarajevo in Bosnien-Herzegowina. Seine zweite Frau Ljubinka ist bosnische Serbin und orthodoxe Christin. Sie arbeitet an der dortigen Universität als Dozentin für Deutsche Literatur und Kulturgeschichte.

Vor seiner Pensionierung war Ziemer seit 2003 Gemeindepfarrer in Riesa. In den Jahren davor leistete er bereits von 1997 bis 2002 interreligiöse Friedensarbeit in Sarajevo. Grenzen der Sprache und Handlungsfähigkeit habe er dort erlebt, zudem Konfrontationen mit Religionen und Politik, bekannte er später. Nüchterner habe ihn das gemacht, zurückhaltender gegenüber großen Worten. Zugleich jedoch habe sich sein Horizont in der Begegnung mit anderen Religionen erweitert. Achtung und Respekt nennt er als wesentliche Aspekte multireligiösen Zusammenlebens.

Die Kirchen betrachtet er nach wie vor als Vermittler in Konflikten. Sie sollten "immer ein wenig quer zur Gesellschaft" stehen, eine andere Richtung einbringen: anderen Menschen begegnen, sie als Herausforderung sehen. Frömmigkeit, verbunden mit Engagement, ist eine frühe Erfahrung Ziemers: 1941 wurde er im pommerschen Gollnow als Sohn eines altlutherischen Pfarrers geboren. Aufgewachsen ist er in Greifswald.

Vermittlungsversuch am Bahnhof

Friedensfähigkeit betrachtet er bis heute als wichtige Aufgabe für Christen. Dies bedeute nicht, Konflikten in der Gesellschaft auszuweichen, sondern so mit ihnen umzugehen, dass sie nicht zerstörerisch werden. Dieser Grundsatz bestimmte auch sein Handeln, als sich im Herbst 1989 die Friedliche Revolution zunächst wenig friedlich anließ. In der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 1989 versuchte Ziemer am Dresdner Hauptbahnhof zwischen aufgebrachten Ausreisewilligen, die auf die Züge aus der Prager Botschaft aufspringen wollten, und Volkspolizisten zu vermitteln – vergebens. Umso inständiger mahnte er am 7. Oktober in der Kreuzkirche zu Gewaltlosigkeit an und appellierte an die Versammelten, im Lande zu bleiben: "Flucht ist keine Lösung." Er und andere Kirchenvertreter sprachen mit SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, während sich auf der Prager Straße die "Gruppe der 20" bildete. Er wurde ihr wichtigster Berater.

Entwicklungshelfer und Dozent

Ziemer inspirierten die Forderungen der Ökumenischen Versammlung der Kirchen in der DDR von 1988/89, deren Präsidium er leitete: Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. In diesem Sinne blickte er weit über die damalige Wendesituation hinaus, hielt einen Bewusstseinswandel für nötig – weg von der Fixierung auf ökonomischen Fortschritt. Und schon im Dezember 1989 prophezeite er, dass die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft nur noch eine Stimme unter anderen sei und sehr schnell relativ klein sein werde.

Doch mehr und mehr fühlte sich Ziemer unverstanden. 1992 schied er zunächst aus dem kirchlichen Dienst aus. Er arbeitete als Entwicklungshelfer in Kroatien, lieferte in Berlin Studien zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte, war Dozent für Berufsethik an der brandenburgischen Landespolizeischule. Innerhalb wie außerhalb der evangelischen Kirche hat Christof Ziemer vielfältige, teils widersprüchliche Erfahrungen gesammelt. Was sich daraus für ihn ergeben hat, beschreibt er so: "Wach zu bleiben, dem Gewissen zu folgen, dem Anderen – als dem Nächsten, dem Fremden, dem anders Glaubenden – Platz einzuräumen in meinem Denken, Handeln und Glauben, Gottesgewissheit in sich zu nähren, zu wissen, dass, mit Martin Buber, 'Erfolg' keiner der Namen Gottes ist".

Tomas Gärtner (epd)