Mission – "Dialog auf Augenhöhe"

Das Christentum als Religion des Geistes und der Begeisterung wurde nicht immer friedlich vermittelt

24. Mai 2016

Performance der Theatergruppe "Teatro Ekyumenikal"
Die Performance der Gruppe "Teatro Ekyumenikal" beim Ökumenischen Rat der Kirchen 2013 verbindet Begeisterung und Offenheit. (Foto:epd-Bild/Norbert Neetz)

George und Fanny Clarke kamen 1881 über Birma nach Südchina. Sie waren die ersten evangelischen Missionare in der Stadt Dali am Rande des Er Hai Sees, die einzigen Europäer weit und breit. Und obwohl sie das feuchte Klima nicht vertrugen und die Gegend entlegen und arm war, blieben sie, lernten die Landessprache, bekleideten sich mit der Tracht des Volkes. Sie zogen mit Gong und Trommeln durch die Straßen und verkündeten die Frohe Botschaft in Knittelversen. Sie waren wie Narren. Kaum jemand nahm sie ernst.

Zwei Jahre nach ihrer Ankunft bekam Fanny Clarke ihr erstes Baby. Sie erkrankte schwer. Nachbarn aus der Straße sahen nach ihr und waren erstaunt: Eine Langnase liegt fern ihrer Heimat im Sterben. Sie wird ihr Kind nicht mehr aufwachsen sehen, und trotzdem singt sie, betet und dankt ihrem Gott. Die Nachricht, dass jemand so versöhnt sterben kann, machte unter den Bergvölkern der Provinz Yunnan die Runde.

George Clarke blieb auch nach Fannys Tod mit seinem Sohn Samuel in Dali, die ersten Chinesen schlossen sich ihm an. Weitere Missionare aus England folgten. Nach wenigen Jahrzehnten war Dali ein Zentrum für Hunderttausende Christen in der Provinz.

Beeindruckende Hingabe

70 Jahre nach Ankunft der Clarkes übernahm die Kommunistische Partei die Macht, denunzierte das Christentum als Instrument des Imperialismus zur Unterwerfung Chinas und verurteilte Pfarrer, Presbyter und einfache Gemeindemitglieder in öffentlichen Schauprozessen. Die chinesischen Gläubigen ertrugen lieber Demütigungen, Folter und Verschleppung, als dass sie ihre Religion verrieten. Mehr als dreißig Jahre hielten sie durch, bis die Machthaber wieder mehr Freiheit zuließen. Ihre Hingabe beeindruckte den Schriftsteller Liao Yiwu. In seinem Buch “Gott ist rot“ (Fischer Verlag, 2014) beschreibt er seine Reise zu den armen Bergvölkern im Norden Yunnans, die heute noch im Christentum ihren Halt finden. Dort fand Yiwu auch die überwucherten Gräber des Ehepaares Clarke.

Missionare gibt es nicht nur im Chris­ten­tum. Auch buddhistische Mönche gehen auf Wanderschaft, um alle Welt vom ­Leiden zu befreien. Aber vermutlich hat es vor dem späten 19. Jahrhundert nie ein Ver­treter indischer, chinesischer oder sonst ­einer Religion bis nach Europa geschafft, um dort für seine Sache zu werben. Christen kamen dagegen schon im frühen 7. Jahrhundert in China an.

Das Christentum ist so missionarisch wie keine andere Religion. In ihm soll die alttestamentliche Weissagung erfüllt sein, dass sich die Völker am Ende aller Zeiten zum Gott der Bibel bekehren. Es ist auch eine Religion des Geistes und der Begeisterung. “Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“, so übersetzte Martin Luther ein Jesuswort über gute Menschen, die Gutes hervorbringen (Matthäus 12,34).

Unzählige Missionare zogen ähnlich mittellos aus wie die ersten Jünger, denen Jesus geboten hatte, nur Stab, Schuhe und ein Hemd mitzunehmen, nicht aber Brot, Tasche und Geld (Markus 6,7–9). Wie ­George und Fanny Clarke überzeugten sie oft weniger durch Predigt und Lehre als durch ihre Hingabe an den Glauben. Das ist die eine Seite der christlichen Mission.

Große Verbrechen

Dass der Begriff Mission heute heftiges Unbehagen auslöst, hängt mit seiner anderen Seite zusammen: Europäische Seefahrer­nationen, die sich christlich nannten, organisierten ab dem 16. Jahrhundert das größte Morden der ­Menschheitsgeschichte – angeblich im Dienst des Evangeliums.

In Südamerika sank nach Berechnungen von Historikern die einheimische Bevölkerung im Laufe des 16. Jahrhunderts von siebzig auf zehn Millionen. Die meis­ten starben an eingeschleppten Krankheitserregern, viele unter unmenschlicher Fronarbeit. Weitere brachte man auf oft grausame Weise um. An den Ostküsten Nordamerikas ver­schwanden im 17. Jahrhundert bis zu 90 Prozent der Ureinwohner, in Neuseeland bis ins 19. Jahrhundert 60 Prozent. Der Sklavenhandel war so gewaltig, dass Afrikas Bevölkerung sich zwischen 1600 und 1900 nach Christus gerade halten konnte, während sich die Zahl der Europäer vervierfachte. Das Ergebnis dieser mörderischen Pseudomission: Heute ist weltweit jeder dritte Mensch Christ.

“Mir ist alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben“, sagt der auferstandene Christus, “darum geht hin und macht alle Völker zu Jüngern“ (Matthäus 28,18–19). Dass Christus alle Macht gegeben ist, hieß für mittelalterliche Theologen: Mission ist ein geistlicher Auftrag. Für spanische und portugiesische Könige gehörte es aber dann zur Eroberungsstrategie, die Indios auch im christlichen Glauben zu unterwerfen. Ob es christlich war, was Militärs, Gutsbesitzer und Gold- und Silberminenbetreiber mit den neuen Untertanen anstellten, interessierte die Monarchen kaum. Engländer, Niederländer, Franzosen, Dänen, später auch Belgier, Deutsche und Italiener taten es den Spaniern und Portugiesen nach.

Die christliche Lehre verdreht

Die Grausamkeit der europäischen Eroberer stieß von Anfang an auf den Wider­stand von Theologen. Auf der West­indischen Insel Hispaniola trommelte der Dominikaner Fray Antonio Montesino im Jahr 1511 die Sklavenhalter zusammen. Er predigte: “Allesamt befindet ihr euch im Stand der Todsünde“, und hielt ihnen ihre Grausamkeit vor. “Sind denn diese keine Menschen?“, fragte er. “Habt ihr nicht die Pflicht, sie zu lieben wie euch selbst?“

1514 erkannte der Pries­ter und Sklavenhalter Bartolomé de Las Casas sein eigenes Unrecht, als er im biblischen Buch Jesus Sirach (34,24–27) las: “Kärgliches Brot ist der Lebensunterhalt der Armen, wer es ­ihnen vorenthält, ist ein Mörder.“ Aus dem Grundbesitzer wurde einer der damals einflussreichsten Anwälte für Indiorechte. Er erwirkte ein Gesetz zur Freilassung aller Sklaven. Doch Sklavenhändler, Grundbesitzer und Minenbetreiber scherten sich nicht darum – und kamen damit durch.

Kolonialisten missbrauchten schamlos kirchliche Ämter und verdrehten christliche Lehren, um ihre Selbstbereicherung schönzureden. Viele Diakone, Missionare, Pfarrer und Bischöfe richteten sich im ungerechten Kolonialsystem ein, ohne es zu hinterfragen. Doch es waren zuerst die frommen Christen, die gegen den Völkermord protestierten, die für die Abschaffung der Sklaverei kämpften (letztlich mit großem Erfolg). Sie interessierten sich ernsthaft für die Sprachen und Bräuche der indigenen Völker. Und sie halfen ihnen in Missionsschulen, den Anschluss an die brutal hereingebrochene Moderne zu bekommen. Allerdings: Bekehren wollten sie die unterdrückten Völker auch.

Kirchliche Missionswerke arbeiten ihre schuldhafte Verstrickung im Kolonialismus heute gewissenhaft auf. Sie wollen daraus lernen: Ist Mission heute überhaupt noch denkbar, und wenn ja: Wie muss sie aussehen? Befragt man jedoch Armee­führungen, Außen- und Wirtschaftsminis­terien, frühere Kolonialverwaltungen und alte Handelshäuser nach ihrer Vergangenheit, ducken sich die meisten weg. Oder sie tun so, als wäre da nichts gewesen.

Respekt vor der Kultur, Kritik an Misständen

Und heute? Missionare machen sich oft unbeliebt, weil sie beanspruchen, anderen etwas vorauszuhaben. Die Zufriedenen fühlen sich gestört: “Glaub, was du willst, aber lass mich damit in Ruhe.“

“Der Herr hat mich gesandt, den Gefangenen zu verkünden, dass sie frei sein sollen, den Blinden, dass sie sehen werden, und den Unterdrückten, dass sie frei und ledig sein sollen.“ Mit Worten des Pro­pheten Jesaja umriss Jesus von Nazareth seine Sendung (Lukas 4,18–19). Wer in Jesu Namen predigt, trägt diese Botschaft weiter.

Dort, wo der Prediger hinkommt, ist keine leere Wüste, sondern eine fremde Kultur. Die verdient Respekt. Doch wenn es zum Christentum gehört, Kranke zu heilen und Unterdrückte zu befreien, muss sich ein Missionar auch gegen manches richten, was als Tradition daherkommt: gegen Sklaverei, Genitalverstümmelung, Witwenverbrennungen, Ausgrenzung.

Wie Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719), einer der ersten lutherischen Mis­sionare. Er zog ins südindische Tranquebar, lernte die Landessprache, übersetzte die Bibel ins Tamilische­ und ließ sich von Brahmanen Religion, Ethik und Götter der Malabaren erklären. Er wusste, wie hartnäckig die indische Gesellschaft am Kastensystem festhält. Dennoch ließ er Kinder aller Kasten in seinen Schulen gemeinsam unterrichten. Als der Missionar starb, zählte seine Gemeinde etwa 250 Einheimische. 140 gehörten zur untersten Kas­te der Schudras. Alle übrigen galten als Kas­tenlose, Paria. Kein Brahmane wollte mit ihnen zu tun haben.

Bereitschaft, zu lernen

Wer etwas mitteilen möchte, muss sich verständlich machen. “Mission ist nicht die unmittelbare Weitergabe der Botschaft, wie ich sie verstehe“, sagen Missionsexperten der Evangelischen Kirche heute (“Ökumene im 21. Jahrhundert“, EKD-Text 124, 2015). “Sondern sie sucht nach Anknüpfungspunkten im Denken und Fühlen des Gegenübers.“ Und weil auf jedem Kontinent unterschiedlich gedacht und gefühlt wird, tanzen Afrikaner in Gottesdiensten, ehren Chinesen die Ahnen und wägen Nord­europäer reserviert ab, welchem Teil der Predigt sie zustimmen und welchem nicht.

Ein Missionar muss bereit sein, dazuzulernen. Missionswerke betonen heute, sie wollen “einen Dialog auf Augenhöhe“ führen. Ein hehres Ziel für reiche Kirchen, deren Gesprächspartner oft finanziell von ihnen abhängen. Zudem kann die Lernbereitschaft schnell erschöpft sein. Wer soll von wem lernen, wenn ein ghanaischer Bischof von seinem deutschen Amtskollegen verlangt, nicht länger homosexuelle Paare zu segnen, sondern stattdessen Homosexualität pauschal öffentlich zu verurteilen?

Religion des Teilens

In den geburtenstarken, ärmeren Weltgegenden legen Christen kräftig zu. Vor allem die einheimischen Pfingstkirchen und Charismatiker treiben das Wachstum voran, manchmal auch mit falschen Versprechen: Wer Gottes Segen habe, den belohne Gott mit Reichtum.

In den Ländern, die früher Missionare in alle Welt schickten, sinkt dagegen der Anteil der Christen. Für viele Profiteure der Weltwirtschaft, etwa das wohlhaben­de Siebtel der Menschheit in Nordamerika, Europa, Australien und Neuseeland, ist die Religion des Teilens wenig attraktiv. Und in Ländern, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg der Atheismus verordnet war, geriet sie mancherorts ganz in Vergessenheit. Umso mehr müssen Christen auch hier ihren Glauben bezeugen: Durch das gute Beispiel und ohne Kompromisse, wenn es um Grundsätze geht – etwa dass Gottes Liebe jedem gilt, unabhängig von Herkunft, Nationalität und Hautfarbe. Zum Missionieren gehört aber beides: fest im Glauben zu stehen und trotzdem dazuzulernen. Weil man offen dafür ist, was die anderen zu sagen haben.

Burkhard Weitz (chrismon)