Blutgetränkter Boden und paradiesischer Strand
Der Altar der Eine-Welt-Kirche in der Lüneburger Heide vereint Erdproben von allen Kontinenten
21. Mai 2016
Braun ist die Erde aus Auschwitz-Birkenau, darin liegt ein Stück vom Stacheldrahtzaun des NS-Konzentrationslagers. Gleich darüber leuchtet es hell. Feiner Sand, wie Puderzucker, erinnert an den Urlaub am Strand des polnischen Ostseebades Kolobrzeg. Eine Handbreit davon entfernt steht Erde vom Tiananmen-Platz in Peking, wo im Juni 1989 auf Geheiß der chinesischen Führung Studentenproteste blutig niedergeschlagen wurden. Es sind drei von mehr als 5.400 "Erdbüchern" im dreiflügeligen Altar der Hamburger Künstlerin Marianne Greve, der in der evangelischen Eine-Welt-Kirche des niedersächsischen Heidestädtchens Schneverdingen steht.
Dass die Erden aus Auschwitz, Kolobrzeg und Peking im Altar so dicht beieinanderstehen, ist reiner Zufall. "Eine soziale Inszenierung", sagt Greve. "Durch die Zufallsverteilung steht das Erdbuch des Dalai Lama neben der Probe einer Putzfrau – niemand kann sich einen Platz in der ersten Reihe kaufen."
Altar und Kirche wurden als Expo-Projekt zur Weltausstellung in Hannover vor 16 Jahren eingeweiht. Die Kirche ist die einzige in Deutschland, die in umweltschonender Brettstapeltechnik gebaut wurde. Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt und die Niedersächsische Umweltstiftung haben das knapp 1,7 Millionen Euro teure Modellprojekt gefördert. "Jährlich kommen Tausende, um die Eine-Welt-Kirche zu sehen", sagt Gemeindepastor Frank Hasselberg.
Tausende haben Erdproben aus aller Welt gespendet
Und Tausende haben auch Erdproben aus aller Welt gespendet – oft als Zeugnis ihrer Heimat oder von Urlaubsreisen, aber auch als offizielles Geschenk. Im Schneverdinger Altar finden sich Gestein aus der Sandsteinfassade des Berliner Reichstages und rund 500 Millionen Jahre alter schneeweißer Marmor aus der Antarktis. Eine Erdspende des Dalai Lama stammt vom tibetischen Plateau in mehr als 4.500 Metern Höhe, aus 5.000 Metern Wassertiefe kam Schlamm aus dem zentralen Pazifik südlich von Hawaii nach Schneverdingen.
Alle Boden-Bücher sind im Internet dokumentiert – und erzählen dort als stumme Zeugen von Katastrophen und Glücksmomenten: Erde aus den South-Western-Townships (Soweto) bei Johannesburg, wo die südafrikanische Apartheid-Regierung 1976 einen Schüleraufstand blutig niederschlug. Eine Probe von der Insel Madeira im Atlantik, die mit ihren üppigen Blumengärten von ihrer Spenderin als sehnlichstes Reiseziel beschrieben wird. Erden aus Tschernobyl und Gorleben, die vom Widerstand gegen die Atomkraft zeugen.
Dramatisch liest sich die Geschichte einer Probe aus Fröttmaning bei München. "Das versunkene Dorf", nennt Spenderin Susann Reese die Ortschaft, aus der ihre Erde stammt und die schrittweise abgerissen wurde. Teile von ihr mussten zuerst einer Autobahn weichen, dann einer Kläranlage, einer Mülldeponie und am Ende dem Bau der Allianz-Arena des FC Bayern.
Erde aus Bethlehem, Nazareth und vom Sinai
Rostrot leuchtet die Erde vom australischen Ayers Rock – für die Aborigines heiliger Boden. Ein anderes Buch ist gefüllt mit dunkelbrauner Erde aus Hambantota auf Sri Lanka, wo 2004 Tausende durch einen Tsunami getötet wurden. Eine Mutter hat Erde des Ortes, an dem ihre Tochter ermordet wurde, in die Kirche gebracht. "Viele empfinden es als Trost, mit ihrer Erfahrung angenommen zu werden", sagt Marianne Greve.
Massive Stahlstützen sorgen dafür, dass der in seiner Art einzigartige Altar am Ende bis zu sieben Tonnen Erd- und Gesteinsproben aufnehmen kann. Die meisten Länder der Welt sind schon vertreten, besonders die Urlaubsgebiete rund um das Mittelmeer. Aber 56 fehlen noch, darunter so exotische wie die Inseln Tuvalu, Antigua und Barbuda, aber auch Nordirland, Katar und Mazedonien. Also wird weiter gesammelt. Zu Recht, schreibt Monika Gieland aus Lüneburg zu ihrer Boden-Spende: Der Altar erinnere daran, "dass wir nur eine Mutter Erde haben, die wir pfleglich behandeln sollten".
Dieter Sell (epd)
Bis zum 31. Oktober 2016 ist die Eine-Welt-Kirche täglich von 15 Uhr bis 17 Uhr sowie montags bis samstags auch von 10 Uhr bis 12 Uhr geöffnet. Kirchenführungen können individuell vereinbart werden. Informationen unter Tel. 0 51 93 / 80 08 28.
Die Kirchengemeinde und Marianne Greve verkaufen Acrylbücher mit gespendeter Erde aus aller Welt zum Preis von je 85 Euro. Mit dem Erlös wird das Altar-Projekt mit finanziert. Kontakt zur Eine-Welt-Kirchengemeinde unter Tel. 0 51 93 / 41 30.