Trügerische Kirschblüte in Tomioka

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie schildert Eindrücke von einem Spaziergang durch das Fukushima-Sperrgebiet

28. April 2016

Kirschblüten
Frühjahr bedeutet für viele Japaner "Hanami", was übersetzt Blütenschau heißt. Die Kirschblüte ist der Höhepunkt dieses Brauchs und gilt als Sinnbild für Schönheit und Vergänglichkeit. (Foto: epd/Raymond Yamamoto)

30 Jahre Tschernobyl, fünf Jahre Fukushima. Die Jahrestage trafen sich in diesem Frühjahr. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie und Margot Käßmann, Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum 2017, waren auf Einladung der "United Church of Christ in Japan" im Fukushima-Sperrgebiet unterwegs. Wie es sich anfühlt, in einer nuklear verseuchten Landschaft spazieren zu gehen, berichtet hier Ulrich Lilie. Die Eindrücke von Margot Käßmann sind auf chrismon.de nachzulesen.

Zwei unvergessliche Tage in einer landschaftlich wunderschönen grünen Umgebung im Frühling kurz nach der Kirschblüte gut 160 Kilometer nördlich von Tokio. Aber der schöne Schein trügt. Der Geigerzähler, der im Auto genauso laut piept wie die kleinen Messgeräte, die wir an der Kleidung tragen müssen, zeigt uns an, was wir in dieser bezaubernden Landschaft nicht riechen, nicht hören, nicht schmecken und nicht sehen können. Schon auf dem Weg auf der seit zwei Jahren wieder freigegebenen Autobahn – durch wunderbare Mischwälder in den unterschiedlichsten hell- und dunkelgrünen Farbtönen, mit feinen baumhohen Bambusstämmen, Pinien, Kiefern und Laubbäumen und vorbei an blühenden Magnolien – schlagen die Zähler aus.

Wir sind im Bezirk Fukushima unterwegs, einer lebensfeindlichen No Go Area. Gestern wurde in aller Welt des 30sten Jahrestags des Supergaus in Tschernobyl gedacht. Was wir hier in den nächsten zwei Stunden im Umkreis von zehn Kilometern rund um Fukushima 1 sehen, wird die Menschen, die hier nach dem Willen der Regierung nächstes Jahr wieder in ihre Häuser und Wohnungen einziehen sollen (auch damit die Entschädigungen nicht so hoch ausfallen müssen), sicher in den nächsten 30 Jahren noch beschäftigen: Wir fahren mit unserem Auto in das Wohngebiet einer in diesem Jahr noch gesperrten Geisterstadt.

In Tomioka leuchten im Abendlicht die letzten Kirschblüten an den Bäumen längs der gespenstisch menschenleeren Allee in dem typischen, japanischen Rosa, das wir alle von Plakaten und Bildern kennen. Wir halten an und steigen auf einer verlassenen Straße mit rechts und links fein säuberlich aufgestellten Absperrgittern vor leerstehenden Häusern und Läden aus, vor denen die vor der Strahlung flüchtenden Menschen ihre  verrostenden Autos und ihre Fahrräder haben stehen lassen müssen.

Ein Tag reicht für die Jahresdosis

Ich gehe zu einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinüber und blicke durch die herunter gelassene gelbe Plastikjalousie in einen Friseursalon, der von innen so aussieht, als würden hier morgen wieder Haare geschnitten oder gefärbt. Dabei hat diesen Salon seit fünf Jahren kein Mensch mehr betreten dürfen. Im Nachbarhaus ist im Garten liebevoll eine kleine Tempelanlage aufgebaut, sie steht in einem etwas verwilderten japanischen Ziergarten wie aus einem Bilderbuch vor der Terrasse des Wohnzimmers. Beim Blick durch die von Staub und Regen verschmutzte große Wohnzimmerscheibe sehe ich die aufgeschlagenen Zeitungen auf dem Tisch liegen.

Auf einigen Dächern der Nachbarhäuser haben die Bewohner mit Plastikfolien und Sandsäcken die Risse abgedeckt, die durch das folgenschwere Erdbeben am 11. März vor fünf Jahren an vielen Häusern entstanden sind. Die meisten Häuser aber stehen äußerlich völlig unversehrt und wie in einen Schlaf versetzt da. Menschen, die in dieser lebensfeindlichen Umgebung wohnen würden, hätten in wenigen Stunden die zulässige Höchststrahlendosis für ein Jahr überschritten. Die gesundheitlichen Langzeitfolgen auch der niedrigeren Strahlung in den Städten und Dörfern rund um diese Sperrzone sind noch nicht abzusehen.

Einige Leute von der Initiative "Tarachine" nehmen hier, unterstützt von der Gemeinde der United Church of Christ of Japan, regelmäßig ihre eigenen Boden- und Luftmessungen vor. Messdaten, die die japanische Regierung veröffentlicht, erscheinen unglaubwürdig. In dem auf unabsehbare Zeit gesperrten Gebiet auf der rechten Seite der Straße, auf der weit und breit keine Menschen gehen und keine Autos fahren, graben sie – routiniert und mit Handschuhen, Zinkeimer und Gartenschaufel ausgerüstet – etwas Erde aus. Sie füllen die ausgegrabene Erde in eine Plastikdose und messen sie mit einem mitgebrachten Messgerät. Dabei stellen sie eine Belastung mit 12,4 tausend Becquerel pro Kilo Erde fest. Daraufhin wechseln sie auf die linke Straßenseite, die nach der offiziellen Überprüfung wieder freigegeben wurde und wo nach dem Willen der Regierung  in einigen Monaten die vormaligen Bewohner wieder einziehen sollen. Hier ergibt die Messung sogar 13,1 tausend Becquerel.

Nach jedem Regen und nach jedem Sturm ändern sich die Werte, manchmal täglich, erzählen sie. Neben unserem geparkten Auto mit der Messstation im Kofferraum steht einer der fest im Boden installierten und mit Solarenergie betriebenen öffentlichen Geigerzähler, die hier überall auf den Straßen und vor den öffentlichen Gebäuden zu sehen sind. Er misst direkt neben uns 2,1 Microsievert in der Stunde. Die meisten Menschen trauen diesen Messdaten nicht. Und trotzdem, nur 20 Millisievert lässt die Jahres-Höchstgrenze für Personen zu, die in strahlungsbelastenden Berufen in Deutschland arbeiten. Zum Erreichen dieser Dosis würde ein eintägiger Aufenthalt in einer der Häuser ausreichen.

Viele trauen den Plänen der Regierung nicht

Das Abendgezwitscher der Vögel, die keine Geigerzähler lesen können, mischt sich auf gespenstische Weise mit den immer wieder laut piependen Geräten, die wir anschauen und abfotografieren. Ich fühle mich, wie die einzige nicht eingeschlafene Figur aus Dornröschen, während ich in abgesperrte Häuser und hinter Zäune in angrenzende, ebenfalls abgesperrte lange menschenleere Straßen schaue. Wir gehen an Tankstellen vorbei, an denen seit Jahren kein Auto mehr vorgefahren ist. Bekleidungsgeschäfte mit der Mode von vorgestern in der verstaubten Auslage und kleine Betriebe, in denen noch das Material auf dem Hof steht, das kein Mensch mehr abholen wird.

Wer entsorgt diese strahlende Kulisse? Oder wird sie – und das scheint offenbar nach wir vor der Plan der Regierung zu sein – wie im Märchen von ihren bald schon heimkehrenden Bewohnern nur einfach wieder wachgeküsst? Unsere Begleiterinnen und Begleiter sind skeptisch. Bisher ist niemand zurückgekehrt. Viele trauen den Plänen dieser Regierung nicht. Andere Bewohner wollen an diese Pläne glauben, möchten, dass möglichst bald wieder Normalität einzieht in dieses Niemandsland, in dem nur die Tiere geblieben sind. Und inzwischen verwilderte Hunde, die vor fünf Jahren zurück gelassen wurden.

Ich bin in meinem Leben auf vielen Reisen durch viele Straßen gelaufen, viele erinnere ich gar nicht mehr. Diesen abendlichen Gang durch die menschenleeren Straßen der langsam verrottenden, strahlenden Kleinstadt Tomioka werde ich nicht vergessen.

Ulrich Lilie