Seelsorge im Panopticon

Kirchliche Arbeit hinter Gefängnismauern erfordert viel Idealismus und oftmals auch klare Kante

27. April 2016

Der evangelische Gefaengnisseelsorger Thomas-Dietrich Lehmann (61) in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Moabit in Berlin
Der evangelische Gefaengnisseelsorger Thomas-Dietrich Lehmann (61) in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Moabit in Berlin. (Foto: epd-Bild/Blume)

Wenn sich in dieser Woche die evangelischen Gefängnisseelsorger Deutschlands am Seddiner See in Brandenburg zu ihrer Jahrestagung treffen, werden sich die Gesprächsgesuche im Fach von Pfarrer Thomas-Dietrich Lehmann vorübergehend stapeln. Seit der ehemalige "Arbeiterpriester", wie er sich selbst bezeichnet, vor sechs Jahren in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Moabit als Gefängnisseelsorger angefangen hat, vergeht kaum ein Tag ohne dringende Bitte um eine Visite. Rund 900 Haftplätze hat die Anstalt, alles sogenannte Kurzstrafer mit einer Verweildauer von weniger als drei Jahren. Der dringend formulierte Wunsch, den evangelischen Pfarrer sprechen zu können, entpuppt sich manchmal als simples Verlangen nach einem Päckchen Tabak.

"Haftschock" in den ersten Wochen

"Wir betreiben hier Seelsorge unter sehr diskontinuierlichen Arbeitsbedingungen", sagt Lehmann nüchtern. Längere Haftzeiten sind eher die Ausnahme. "Einzelzellen von neun Quadratmetern, in denen sich die Inhaftierten 23 Stunden am Tag aufhalten und das vielleicht ein halbes Jahr oder länger – das geht an die Substanz eines jeden Menschen", sagt der 61-Jährige und benutzt immer wieder die Vokabel "Extremsport". "Die verschärften Haftbedingungen der Untersuchungshaft schwappen uns auch in die Seelsorge hinein", ergänzt Lehmann und verweist etwa auf den üblichen "Haftschock" in den ersten Wochen nach der Einlieferung. In dieser kritischen Phase für die Psyche der Männer steige erfahrungsgemäß die Gefahr von Suiziden. Manche bringe allein die Ankündigung der Verlegung in eine andere Haftanstalt an die Grenze ihrer psychischen Belastbarkeit.

Dabei galt das Gebäude der JVA Moabit einst als Vorzeigeobjekt. Es war bei der Fertigstellung 1881 erst das zweite Gefängnis in Preußen in der Bauweise eines Panopticons. Die Idee dahinter: Von einem zentralen Rundbau aus können in allen fünf abgehenden Trakten über mehrere Etagen hinweg die Inhaftierten gleichzeitig durch einen einzelnen Wärter überwacht werden. Das versprach Effizienz und eine bessere Kontrolle der Gefangenen.

Durch Kontakt zum Pfarrer der engen Zelle entkommen

Seit damals und bis heute gibt es einen evangelischen Gefängnisseelsorger in Moabit. Exakt 1,5 Planstellen sind es heute noch. Auch katholische Seelsorger gibt es, einen Rabbiner und demnächst sollen auch muslimische Freitagsgebete Alltag in den Berliner Haftanstalten werden, wie Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) betont.

Die Gefangenen sind oftmals froh, durch den Kontakt zum Pfarrer einfach mal aus der Enge der Zelle zu kommen, berichtet Lehmann, der seit 2014 hauptamtlich in Moabit tätig ist. Das trifft nicht nur auf die Einzelgespräche zu, die auf einem Zettel beantragt werden müssen und von denen der Pfarrer maximal drei an einem Tag schafft - eventuelle Nacharbeit mit einem Anstaltspsychologen inbegriffen. Es gilt auch für die sonntäglichen Gottesdienste in der Gefängniskapelle.

"Ich kann nicht voraussetzen, dass meine Klientel kirchlich vorgebildet ist." Das ist wieder so ein nüchterner Satz von Lehmann; was er damit genau meint, wird auf Nachfrage deutlich: Manchmal melden sich die Gefangenen für den Gottesdienst an, um mal aus der Zelle raus zu sein und mit dem Kumpel zu quatschen. Dass die Gottesdienste anders ablaufen als in einer normalen Gemeinde, liegt auf der Hand. Doch Lehmann zeigt notfalls auch klare Kante: Er hat den Gottesdienst auch schon unterbrechen und Störer wieder in die Zelle bringen lassen: "Ich bin kein Vorturner im Kasperletheater."

Tabak, Kaffee oder Süßigkeiten für Notfälle

Insgesamt genießen die Kirchen nach seinen Worten ein hohes Image in der Haft. Nicht nur, dass der Pfarrer ausgestattet ist mit Beichtgeheimnis und Schweigepflicht. Unter Inhaftierten spricht sich auch schnell herum, dass der Seelsorger Tabak, Kaffee oder Süßigkeiten für Notfälle bereit hält. Das sind begehrte Güter in einem kargen Umfeld, in dem alles streng reglementiert ist und wo sich plötzlich Suchtkranke unter kaltem Entzug wiederfinden. Die Frage "Herr Pfarrer, haben Sie nicht ein Päckchen Tabak für mich?" wird da häufig zum Einstieg in Lehmanns eigentliche seelsorgerliche Arbeit.

Diese fordert den Geistlichen so sehr, dass eine Supervision alle vier bis sechs Wochen unumgänglich ist. "Extremsport", würde er selbst wohl sagen. Er hört sich die Geschichten von Mördern und Kinderschändern an, manchmal mit detailreicher Schilderung der grausamen Tat. "Herr Pfarrer, kann ich denn so meinem Schöpfer überhaupt gegenüber treten?" - diese Frage steht immer wieder im Raum. Der Gefängnisseelsorger hat in langen Berufsjahren einen Ansatz gefunden, der den Blick der Menschen trotz allem auf ihre Zukunft lenkt: "Gott verurteilt deine Tat, aber er wird dich als Menschenkind nicht verurteilen."

Jens Büttner (epd)