Die Spirale der Gewalt durchbrechen

Andacht von Kirchenpräsident Volker Jung zu den Terroranschlägen in Brüssel in der Karwoche

23. März 2016

Stacheldraht vor Sonnenuntergang
Angesichts der Terroranschläge erscheint die Botschaft der Karwoche in aktuellem Licht. (Foto: epd-Bild/Gordon Welters)

Das zentrale Symbol des Christentums ist das Kreuz. In den allermeisten Kirchen ist es an einem zentralen Platz. Oft ist es ein Kruzifix – mit dem Körper des leidenden und sterbenden Christus. Über Jahrhunderte war es für Menschen ein Anblick, in dem sie Leiden erkannten, das sie nahezu täglich und unmittelbar erlebten. Menschen starben viel zu früh, Krankheiten brachten schnell den Tod, Kriege durchzogen das Land. Am Kreuz spiegelten sich das Leben, seine Endlichkeit und seine Verletzlichkeit wider.

Heute verstört das Kreuz mit Christus manchen: Durchbohrte Handflächen mit Blut, ein nackter Oberkörper mit offenen Wunden und ein schmerzverzerrtes Gesicht – das muss nicht jedem gefallen. Es ist das Bild einer sterbenden Elendsgestalt, das fremd wirkt. Und es ist ein Bild vom Leben und grausamen Sterben, das gerne verdrängt wird. Das Kreuz konfrontiert mit einer Lebenswirklichkeit, die da ist, auch wenn viele sie nicht wahrhaben wollen.

Macht, Hass und Gewalt

In dieser Woche haben wir wieder auf schreckliche Weise erleben müssen, wie Leid unvermittelt hereinbrechen kann. Bei den Terroranschlägen von Brüssel verloren viele Menschen ihr Leben oder wurden schwer verletzt. Es war eine grausame Tat. Sie stellte die Macht des Hasses gegen die Kraft der Menschlichkeit. Und sie wirft wieder Fragen auf: Was macht Menschen so fanatisch? Ihre Religion? Ihre politischen Ansichten? Oder beides zusammen? Und sie lässt eine Welt zurück, die unversöhnlich scheint. 

Als Jesus am Kreuz starb, waren seine Jünger vor fast 2000 Jahren angesichts des Leides und der Trauer ratlos wie viele Menschen heute. Derjenige, dem sie vertrauten, der sie mit seinen Worten und Taten in den Bann gezogen hatte, war tot. Er hatte von der Liebe Gottes zu allen Menschen geredet, von der Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden. Und dann war er hineingeraten in einen todbringenden Sog von Verdächtigungen und Lügen, von religiöser und politscher Macht und Gewalt. War sein Tod nicht eine einzige große Niederlage der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen? Eine Niederlage der Hoffnung auf ein besseres Leben in mehr Gerechtigkeit und vor allem in Frieden?

Botschafter der Versöhnung

Das wäre es zweifellos gewesen, wenn Christus im Tod geblieben wäre. Das ist er nicht. Er ist auferstanden. Und er hat sie ermutigt, ihren Glauben und ihre Hoffnung nicht aufzugeben. Und sie haben angefangen, das Geschehen am Kreuz zu deuten und mit den Augen des Glaubens zu sehen. Ein besonders tiefsinniger und faszinierender Gedanke ist für mich, was Paulus an die Gemeinde in Korinth geschrieben hat: „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter ihnen aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“

Hinter diesen Worten steht folgender Gedanken: Gott hat sich in Jesus mit den Menschen verbunden. So eng, dass er sogar sterblich wurde wie ein Mensch. Und er hat damit gezeigt: Ihr könnt mir alles antun, sogar töten könnt ihr mich, aber meine Liebe zu euch, zu meinen Menschenkindern wird keine Ende haben. Und Paulus hat gesagt: Das ist Versöhnung! Gott ist kein Feind der Menschen und des Lebens, sondern er ist und bleibt der große Liebhaber des Lebens und seiner Menschen. Am Kreuz stellt er uns vor Augen, wie Menschen sein können, damit wir dies überwinden, damit alle Opfer ein Ende haben. Für Paulus ist klar: Wenn Gott so ist, dann lasst uns Botschafter sein, Botschafter der Versöhnung.

Kraft im Glauben finden

Das sind für mich wichtige Gedanken in diesen aufgewühlten Tagen. Ich bin überzeugt: Gott darf nicht missbraucht werden, um Gewalt zur rechtfertigen – in keiner Religion! Gerade der Blick aufs Kreuz zeigt uns, wie nötig es ist, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen und dass wir im Glauben die Kraft finden können, gut miteinander zu leben – versöhnt mit Gott und den Menschen.

Um Versöhnung zu leben, braucht es Menschen, die versöhnt leben wollen. Dazu gehört aufzuhören, Schuld aufzurechnen. Das ist auch politisch möglich. Europa steht für solche Erfahrungen – etwa in den Beziehungen Deutschlands zu Frankreich und Polen. Christlich zu leben bedeutet für mich, immer wieder Wege der Versöhnung zu suchen – direkt und unmittelbar in persönlichen Beziehungen, aber auch als Staatsbürger - , die dazu beitragen, dass Versöhnung gelebt werden kann zwischen Religionen, Kulturen und Staaten.

Volker Jung