"Wir singen eigentlich immer"

Der Dresdner Kreuzchor feiert seinen 800. Geburtstag

04. März 2016

Die Knaben des Dresdner Kreuzchores auf der Treppe der Semperoper
Der Kreuzchor in der Dresdner Semperoper. (Foto: epd-Bild/Matthias Rietschel)

Der Chorprobenraum füllt sich, aus allen Richtungen strömen Jungs zwischen neun und 19 Jahren auf ihre Plätze. Ein Viertklässler ruckelt sich auf dem Stuhl zurecht. Ein anderer muss seinem Nachbarn noch schnell etwas sagen. Es ist Donnerstag , 14 Uhr beim Dresdner Kreuzchor. Erste Gesamtchorprobe der Woche. Geübt wird für die Vesper am Samstag. Was zuvor in den einzelnen Stimmlagen geprobt wurde, soll nun auch zusammen schön klingen.

Der Dresdner Kreuzchor feiert in diesem Jahr sein 800-jähriges Bestehen mit einer Reihe von Veranstaltungen. Erster Höhepunkt war ein Festakt am Freitag, 4. März in der Semperoper. "Wenn die Mehrheit zu leise ist, wird die Minderheit zu laut", sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in seiner Festrede auch mit Blick auf fremdenfeindliche Attacken in Sachsen. Sein Respekt gelte all denen, die ihre Stimme erheben, auf der Straße oder in den Wahlkabinen.

Der Chor sei kulturelles Erbe und einer der Besten der Welt. "Dieses große Vermächtnis" sei "nicht nur zu bewundern, sondern vor allem zu bewahren", sagte Lammert. Der Kreuzchor stehe für Tugenden wie Treue, Respekt und Anstand. Das sei "unser gemeinsames Erbe und auch unsere gemeinsame Verpflichtung".

Auch Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU)  betonte, vor dem Hintergrund zunehmender Fremdenfeindlichkeit und Radikalität sei es "wichtig, solche Botschafter zu haben, die Sachsens prägende Werte und Traditionen vertreten, verbunden mit Weltoffenheit und christlicher Nächstenliebe".

Enge Kooperation mit der Schule

Der Chor feiert das Jubiläum zusammen mit der Kreuzkirche und der Kreuzschule, dem heutigen Evangelischen Gymnasium.  „Das Zusammenspiel der drei Institutionen ist die Grundlage für alles", sagt Kreuzkantor Roderich Kreile.  Die Kirche im Stadtzentrum sei Auftrittsort und Heimstatt des Chores. Mit der Schule arbeite die Chorleitung eng zusammen. "Das geht Hand in Hand", so Kreile. Das evangelische Kreuzgymnasium und das Management des Chores, dessen Träger die Stadt ist, sind unter einem Dach beheimatet. "Die Jungs sind motiviert. Sie sind mit Freude dabei", sagt Kreile mit Blick auf das Jubiläumsjahr.

Die jungen Sänger haben stets einen vollen Terminkalender. Neben rund 35 Gottesdiensten und 20 Chorvespern im Jahr führt der Chor regelmäßig Bachs Weihnachtsoratorium und Passionen auf. Zum Standard gehören auch die Gestaltung einer Christ- und einer Ostermette, die Mitwirkung beim Gedenktag zur Zerstörung Dresdens im zweiten Weltkrieg sowie bei den Dresdener Musikfestspielen. Der Kreuzchor tritt immer wieder in Kirchen und Konzertsälen des In- und Auslandes auf. Pro Jahr gibt es drei feste Tourneen. Gastspiele führten den Chor in den letzten Jahren in die USA, nach Japan, Südkorea, Taiwan, Volksrepublik China sowie Kanada. Dieses Jahr wird der Chor erstmals bei den Osterfestspielen in Salzburg singen.

Kantor hat umfassende Aufgaben

 Um den Nachwuchs müssen sich die Kruzianer offenbar keine Sorgen machen. "Wir haben eine ganz stabile Nachwuchssituation", sagt Kreile. Geschätzt werde die Pädagogik und Wertevermittlung. Kreile schätzt an seiner Arbeit als Kreuzkantor vor allem den Facettenreichtum. "Als Musiker habe ich ein wunderbares Instrument, mit dem man nahezu alles umsetzen und realisieren kann. Als Pädagoge staune ich, wie sich ein Chorist über die Jahre hinweg entwickelt - auch als Persönlichkeit." Zudem sehe er seine Aufgabe als Intendant auch darin, dafür zu sorgen, dass der Kreuzchor auf einer sicheren Grundlage steht. "Ich glaube, es gibt im Musikbetrieb kaum eine Aufgabe, die insgesamt so viele Anforderungen stellt."

Trotz Festjahr: Die Routineaufgaben bleiben, etwa die Vorbereitung der Samstags-Vespern in der Kreuzkirche, die von den Kruzianern traditionell jede Woche - außer in den Ferien - gestaltet werden. Chordirigent Peter Kopp sitzt am Flügel und ist gespannt, was die Jungs diese Woche schon alles drauf haben. Er leitet die Gesamtproben im Wechsel mit Kreuzkantor Kreile.

Kleinste Details formen den Klang

Präzise arbeitet er die Feinheiten von gleich mehreren Stücken heraus, jeder Ton muss stimmen, jeder Akkord sitzen. Als Dirigent ist Kopp das Ohr des Chores: "Gut getroffen, aber zu laut", sagt er. Oder: "Musikalisch ist alles richtig, aber es klingt noch nicht." Und auch ermuntern muss er: "Ihr dürft keinen Zweifel an den Tönen haben - bei dem 'Dis' verlieren manche die Nerven."

Es sind Details, die den berühmten Klang des Kreuzchores ausmachen. Viele Stunden Übung sind notwendig, bis sich die Töne glockenhell in die Höhe schwingen und etwa der Bass nicht mehr grummelt. Der Tagesablauf der Jungs ist vorprogrammiert: Schule, Lernen, Singen, Instrumentalausbildung und immer wieder Proben.

Arbeiten und leben im Alumnat

"Wir singen eigentlich wirklich immer", beschreibt der 18-jährige Janis Hanig den Alltag. Zeit für eigene Aktivitäten bleibt da kaum. Viele Jungs wohnen im sogenannten Alumnat neben der Kreuzschule - selbst die aus Dresden. Wegen der kurzen Wege. Zu zweit oder dritt teilen sich jeweils Gleichaltrige ein Zimmer. Für etwa 90 der 130 Kruzianer ist das Internat des Chores über neun Jahre Arbeits- und Lebensraum zugleich. Ein Kosmos, aus dem sie sich kaum herausbewegen.

Nach 90 Minuten resümiert Kopp: "Das war eine sehr interessante Probe, am Anfang habt ihr alles gegeben, am Ende klang es nicht mehr nach Kreuzchor." Sie müssten lernen, ihre Kraft einzuteilen, auch das gehöre zu einem Sänger, gibt er ihnen mit auf den Weg. Dann leeren sich die Plätze schnell, Dutzende Jungs eilen zur Vesperpause.

Bewegende Auftritte

"Das war mal eine wirklich anstrengende Probe", sagen Janis und sein Freund Jan Lang. Die beiden jungen Männer sind schon "alte Hasen", sie singen seit sie neun sind im Chor, Jan inzwischen als Tenor, Janis im Bass. Aber die Auftritte entschädigten für alles, das sei ein tolles Gefühl, sind sie sich einig. Vor allem das Konzert im Dezember im Dynamo-Stadion vor so vielen Menschen - immerhin rund 15.000 - sei ganz toll gewesen, sagt Fußballfan Janis.

Die beiden 18-Jährigen stehen kurz vor dem Abitur. In diesem Schuljahr haben sie schon eine ganze Reihe Ausfalltage, vor allem wegen der beiden Asien-Tourneen. Das bedeutet, jede Menge Stoff nachholen und Arbeiten nachschreiben. Wirklich lustig ist das nicht.

Auch ein Kruzianer hat bis zum Abitur - wie in Sachsen üblich - nur zwölf Schuljahre, könnte aber bei dem Pensum an musikalischen Verpflichtungen gut ein 13. Jahr gebrauchen. Janis und Jan rechnen nicht mit so guten Noten - zumindest nicht in Mathe und Chemie. Trotzdem werden die beiden im Jubiläumsjahr neben vielen Noten auch viel Unterrichtsstoff pauken müssen. (epd/ekd)


Im April wird das Jubiläumsprogramm mit einer ganzen Festwoche fortgesetzt. Am 15. April lädt die Stadt zu einem Bürgerfest ins Rathaus ein. Am 17. April folgt ein Festgottesdienst mit Landesbischof Carsten Rentzing und am 23. April eine Aufführung der Missa solemnis von Beethoven, zu der auch Bundespräsident Joachim Gauck erwartet wird.

Im Gegensatz zum Thomanerchor aus der Nachbarstadt Leipzig, der sich auf eine kaiserliche Stiftungsurkunde berufen kann, sind die Anfänge des Kreuzchores nicht eindeutig belegt. 1215 wird die Nikolaikirche als Hauptkirche der noch jungen Stadt erwähnt. 19 Jahre später bringt Constantia von Babenberg, Gattin des regierenden Pfalzgrafen Heinrich, eine Kreuzreliquie als Mitgift nach Dresden, um die sich eine blühende Wallfahrt entwickelt. Aus der Nikolaikirche wird 1388 die „Kirche zum Heiligen Kreuz“. Die besondere kirchenmusikalische Ausgestaltung der Vespern durch einen Chor ist erstmals 1371 beurkundet.  Relativ lückenlos belegbar ist die Geschichte des Chores aber erst ab der Reformationszeit und dem Amtsantritt des ersten Kreuzkantors 1544. In jüngerer Zeit wurde der Chor vor allem durch den 25. Kreuzkantor Rudolf Mauersberger geprägt, der von 1930 bis 1971 amtierte.  Bei der letzten Kantorenwahl konnte sich der Münchner Roderich Kreile gegen zwei Kandidaten aus dem engeren Umfeld des Chores durchsetzen. Kreile leitet den Kreuzchor seit 1997.