Demokratie wagen

Mit ihrer Denkschrift von 1985 definierte die EKD ihr Verhältnis zum Staat neu - 30 Jahre später erinnert eine akademische Geburtstagsfeier daran

23. Februar 2016

Werbeaktion am Lutherdenkmal Wittenberg
Demokratie hat in der Evangelischen Kirche heute ihren festen Platz. (Foto: epd-Bild/Jens Schlüter)

Vor rund 30 Jahren, im Oktober 1985, veröffentlichte die EKD ihre Denkschrift "Kirche und freiheitliche Demokratie". Eine akademische Geburtstagsfeier in der Universitätsbibliothek Göttingen erinnert an das Dokument, seine Entstehung und Wirkung.

Es waren aufgewühlte Zeiten Anfang der 1980er Jahre: Der Streit über Nachrüstung und Atomenergie bestimmte die Agenda. Nachwirkungen der 68er Bewegung und der Beginn der langen Ära Kohl sorgten auch in der evangelischen Kirche für Kontroversen. Im Linksprotestantismus gab es viel Sympathie für die neuen sozialen Bewegungen und Protestformen wie Blockaden, Boykotts oder Steuerstreiks. In der Politik löste dies wiederum Fragen danach aus, wie es um die Demokratiefähigkeit des Protestantismus überhaupt bestellt sei. So registrierte etwa Helmut Schmidt als Bundeskanzler 1981, beiden Kirchen falle es schwer, der fehlerhaften Demokratie einen Vertrauensvorschuss einzuräumen.

Spätes Bekenntnis

Auf die Frage, wie sich der Protestantismus, der lange mit dem Obrigkeitsstaat liiert und auch keine Stütze der Weimarer Republik war, zum demokratischen Verfassungsstaat verhält, gab es erst 40 Jahre nach Gründung der EKD eine Antwort. Nach kontroversen Beratungen legte sie im Oktober 1985 eine Denkschrift vor, die unter der Überschrift "Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Auftrag" eine grundsätzliche Neujustierung im Verhältnis des Protestantismus zur Demokratie vornahm.

"Als evangelische Christen stimmen wir der Demokratie als einer Verfassungsform zu, die die unantastbare Würde der Person als Grundlage anerkennt und achtet", hält das Dokument fest. Die Demokratie sei keine "christliche Staatsform", aber die positive Beziehung von Christen zum demokratischen Staat sei mehr als äußerlicher Natur, wird hervorgehoben: "Die politische Verantwortung ist im Sinne Luthers 'Beruf' aller Bürger in der Demokratie."

Machtmissbrauch und ziviler Ungehorsam

Das Bekenntnis zur Demokratie begründet die EKD mit der Achtung der Menschenwürde, einer Konsequenz der biblischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Neben diesen theologischen Einsichten zum evangelischen Verständnis von Demokratie werden in dem knappen Text auch neuralgische Punkte wie Machtmissbrauch, Legitimität und ziviler Ungehorsam, die Unterscheidung zwischen Widerspruch und Widerstand, sowie Fortentwicklung der Demokratie etwa durch direkte Bürgerbeteiligung nicht ausgeklammert.

Vorbereitet wurde die Denkschrift in der Kammer für Öffentliche Verantwortung. Maßgebliche Kammermitglieder waren etwa der damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes, Roman Herzog, die SPD-Politiker Erhard Eppler und Jürgen Schmude, Liselotte Funcke (FDP), aber auch der damalige Kirchentagspräsident Wolfgang Huber.

Bruch mit alten Vorstellungen

Treibende Kraft war der Sozialethiker Trutz Rendtorff, erinnert Altbischof Hartmut Löwe, damals Vizepräsident im EKD-Kirchenamt. Die Zustimmung zur freiheitlichen Demokratie sei bei den Kirchen in der DDR auf Befremden gestoßen. Deren Sorge sei es gewesen, ob es zulässig sei, eine Staatsform theologisch zu rechtfertigen. "Doch das mussten wir ihnen zumuten", sagt Löwe.

Mit dem späten Bekenntnis zur Demokratie brach die evangelische Kirche mit antidemokratischen Vorstellungen. "Die Legitimationsbasis des Staates wird nun nicht mehr in der göttlichen Einsetzung staatlicher Ordnung und deren Organen gesehen", sagt der Münchner Theologieprofessor Reiner Anselm. Maßgeblich für diese Zäsur war aus seiner Sicht die prägende Rolle engagierter Christen aus Kirchentag, Synoden und Politik. Auch die Protestbewegungen, die sich häufig aus dem protestantischem Milieu rekrutierten, hätten die Akzeptanz der demokratischen Ordnung gefördert, argumentiert Anselm, Sprecher eines Forschungsprojektes zum Protestantismus zwischen 1949 und 1989.

Fortschreibung nötig

Der Staatsrechtler Hans Michael Heinig, ebenfalls an dem Forschungsprojekt beteiligt, bescheinigt der Denkschrift, den Konsens über die demokratische Staatsform nicht durch "Inhaltsleere oder Formelkompromisse erkauft zu haben. Trotz des Konsenses über den Mehrwert der Demokratie gebe es protestantische Minderheiten, die demokratische Legitimationsverfahren anzweifelten und zivilen Ungehorsam idealisierten. Die freiheitliche Verfassung verlange aber, dass demokratische Entscheidungen auch zu akzeptieren sind, wenn sie moralischen und politischen Gruppeninteressen nicht entsprechen, sagt Heinig.

Gerade die abnehmende Beteiligung an politischen Prozessen und wachsende Distanz von Bürgern und Politik drängten zur Fortschreibung der evangelischen Position, empfiehlt Anselm. Als Schrittmacher der Demokratie sahen sich die beiden großen Kirchen vor zehn Jahren. EKD und Bischofskonferenz mahnten 2006 in einem gemeinsamen Kirchenwort: "Demokratie braucht Tugenden." (epd/ekd)


Unter dem Titel "30 Jahre Demokratiedenkschrift" lädt Die DFG-Forschergruppe FOR 1765 in Kooperation mit der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte zu einer akademischen Geburtstagsfeier in die Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen ein. Die Wissenschaftler Reiner Anselm und Claudia Lepp (München), Hans Michael Heinig und Andreas Busch (Göttingen) sowie Roger Mielke (Hannover) berichten unter anderem über die Entstehung der Denkschrift, ihre Einordnung aus politikwissenschaftlicher Sicht und ihre Stellung im theologischen Diskurs der Zeit.