Unbequemes Erbe

Wie Kirchengemeinden mit Kriegerdenkmälern heute umgehen können

15. November 2015

Kriegerdenkmal Rendsburg
Gehorsam und Heldentod werden auf Denkmälern verherrlicht. (Foto: Stiftung Kiba/Kaja Grope)

Hornow liegt im hellen Licht eines Vorfrühlingstages. Das kleine Dorf im brandenburgischen Teil der Niederlausitz ist umgeben von weiten Feldern und sanft geschwungenen Hügeln. Ein paar hundert Einwohner, verstreute Häuser, eine Kirche, ein altes Schloss. Nach der Wende zog eine belgische Schokoladenfabrik in die ehemalige LPG am Dorfrand, immer häufiger machen jetzt Touristenbusse hier Station.

„Mancher schaut dann auch in der Kirche vorbei“, sagt Wolfgang Burchhardt, 77, der vor dem mächtigen Eingangsportal steht. Der kräftige, kleine Mann mit der Schiebermütze ist nicht der Pfarrer – da gibt es zurzeit keinen, der vor Ort sitzt – aber seine Telefonnummer steht an der Kirchentür.

Brav und treu

Die evangelische St. Martin-Kirche, nach Verfall und Sperrung in der DDR-Zeit wieder instandgesetzt, steht auf einem parkähnlichen Grundstück. An das mittelalterliche Kirchenschiff aus hellem Feldstein schmiegt sich ein kompakter Turm, dessen Oberfläche aus Ziegel, Feldsteinplatten und weißen Putzflächen wie gefleckt aussieht.

Mit seiner Frau zusammen macht Burchardt spontane Führungen. Die beiden kennen hier jeden Stein, und als ehemalige Tierärzte seien sie Bereitschaftsdienst gewöhnt. Die Burchardts passen ihre Führungen dem an, was die Besucher sehen wollen. Den Schokoladenfabrik-Touristen zeigen sie die mit einer seltenen Ätztechnik hergestellten Fensterbilder. Und erzählen, dass Schriftsteller Erwin Strittmatter Szenen aus seiner Trilogie „Der Laden“  in diesem kleinen, von dunklem Holz geprägten Kirchenraum spielen ließ. 

Mit denen aber, die Zeit haben, stellt sich Burchardt vor die weiß-goldene Gedenktafel für Carl Klinke. Der Soldat, der aus dieser Gegend stammt und in Hornow getauft wurde, starb 1864 im deutsch-dänischen Krieg, bei der Schlacht auf den Düppeler Schanzen. Unter anderem durch Theodor Fontanes Gedicht „Der Tag von Düppel“ wurde er in Deutschland zum Kriegshelden stilisiert. „Ein braver Soldat/Treu bis in den Tod/Gott und seinen König“ steht auf der Tafel.

Heldentod als religiöses Opfer

Hier komme man oft lange ins Reden, erzählt Burchhardt. Klinke ein Held? Fontane hat das in einem späteren Buch selbst infrage gestellt. Die entsprechenden Stellen hat Burchhardt kopiert und an die Wand neben das Denkmal gehängt. Dazu weitere gesellschaftsphilosophische Texten, unter anderem von Mahatma Gandhi und dem DDR-kritischen Literaten Kurt Bartsch, die sich mit dem Thema des blinden Gehorsams auseinandersetzen.

Der Vorraum der Kirche wurde 1920 zur „Heldenhalle“ für die Weltkrieg-Gefallenen aus dem Kirchspiel umgestaltet. Wände und Kuppeldecke sind mit Jugendstilornamenten bemalt. Etwa 50 Namenszüge ranken sich an Ästen um einen Bibelspruch aus dem Johannesevangelium: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“. Wie in vielen anderen Kirchen auch wurde der Soldatentod in die Nähe des religiösen  Opfertodes gerückt. An einer Wand der heilige Georg, als überlebensgroßer Ritter, der dem Drachen sein Schwert in den Rachen bohrt.

Tote sind Teil der Gemeinde

„Man muss das aus der Zeit heraus sehen“, sagt Hanna Burchhardt. Die 77-Jährige spricht mir mädchenhafter Stimme, aber doch energisch. „Dass das keine Helden waren, sondern arme Jungs, das weiß doch jeder hier“, meint sie – und es schwingt mit: Spätestens seit April 1945. Da bargen die Hornower nach tagelangen Kämpfen zwischen Russen und Deutschen fast 80 Leichen und begruben diese auf ihrem Kirchhof.

Burchhardts, die erst später in die Gegend kamen, kennen viele Erzählungen: „Das muss die Hölle gewesen sein.“ Bis heute melden sich immer  wieder Menschen, um zu fragen, ob ihr Onkel oder Bruder auf dem Gräberfeld liegt. Manchmal schreibt auch jemand mit Hornower Vorfahren aus dem Ausland und bittet um die Fotografie eines speziellen Namenszuges in der Kirchenvorhalle. „Es ist gut, dass die Namen hier stehen“, sagt Hanna Burchhardt, „sie sind Teil unserer Gemeinde. Und ihre Geschichte eben auch.“

Die Namen verschwimmen

„Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“. Dieser Satz findet sich auch, gut 500 Kilometer von Hornow entfernt in der Christkirche im schleswig-holsteinischen Rendsburg. Auch hier eingebettet in ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs im Kirchenraum. Gegen die etwa zehn Meter breite Wand mit Marmorsäulen und überbordenden Schnitzereien wirkte die Niederlausitzer „Heldenhalle“ fast ländlich-verspielt.

Auf vier schwarzen Tafeln stehen in kleinen goldenen Buchstaben lange Reihen dicht gedrängter Namen. Von Weitem verschwimmen sie zu einer großen goldenen Fläche. „Der Einzelne wurde nicht als wichtig angesehen“, sagt Pfarrer Stefan Holtmann. Der 37-Jährige hat sich viel mit Gefallenendenkmälern beschäftigt, denn seine Kirche ist voll davon. Der von außen schlichte, innen aber prachtvoll ausgestattete Backsteinbau wurde Ende des 17. Jahrhunderts als Garnisonkirche errichtet und war bis 2009 – als die letzte Kaserne schloss – durchgehend Kirche für die hier stationierten Soldaten. An der Wand reiht sich eine Tafel an die nächste: Schleswig-holsteinische Erhebung, Deutsch-Französischer Krieg, Boxeraufstand in China, Herero-Aufstand in Afrika…

Auseinandersetzung - immer wieder neu

"Ich sehe hier zu viel Ehre für Gefallene in sinnlosen Kriegen", hat jemand in das Gästebuch der Kirche geschrieben.  Und auch Holtmann, der 2009 in die Gemeinde kam und die weite, lichte Halle mit den fünf prunkvollen Messing-Kronleuchtern  wunderschön findet, meint: „Die Botschaft ragt in den Raum hinein. Man kann das nicht einfach ausblenden.“

Kriegerdenkmäler – in und außerhalb von Kirchen – sind „unbequeme Denkmäler“. Was macht man mit so einem Erbe? Manche Gemeinden haben ihre Denkmäler entfernt, umgestaltet oder durch Erklärungstafeln kommentiert. In der Rendsburger Christkirche hat man sich entschieden, die Tafeln so zu belassen, wie sie sind. Und sich mit ihnen auseinanderzusetzen – auf immer wieder neue Art und Weise.

2010 etwa zeigte die Künstlerin Käte Huppenbauer in der Kirche Skulpturen, die ihre Erfahrungen als Kriegskind wiederspiegeln. Vor zwei Jahren stellte das tschechisch-russische Bildhauerpaar Sonia Jakuschewa und Jan Koblasa stilisierte Engelfiguren direkt vor die goldenen Namenslisten. Einmal hingen Schüler-Fotografien zum Thema „Spuren jüdischen Lebens in Rendsburg“ an der Wand. Aber auch ohne solche Aktionen, sagt Holtmann, blieben immer wieder Besucher lange vor den Gedenktafeln stehen. Sie sind offenbar berührt vom Leid, das dahintersteckt. Und ratlos angesichts kriegsverherrlichender Schriftzüge. Die Kirche sei der richtige Raum für solche Widersprüche, meint Holtmann. „Ich denke, sie gibt dem Ganzen ihr eigenes, viel größeres Vorwort.“

Hanna Lucassen

(Der Text erschien ursprünglich im Magazin Stiftung Kiba aktuell, Ausgabe 1/2014