Die Reformation als Weltbürgerin

Unter dem Titel "Reformation und die Eine Welt" startet die EKD in ihr nächstes Themenjahr

28. Oktober 2015

weltkugel auf dem Marktplatz in wittenberg
Reformation als weltweites Phänomen - auf dem Marktplatz von Wittenberg wird das augenfällig. (Foto: epd-Bild/Jens Schlueter)

Der Impuls, der 1517 von Wittenberg ausging, hat weltweit um sich gegriffen. Was verbindet all die vielen reformatorischen Kirchen auf dem Globus miteinander? Gibt es eine gemeinsame Aufgabe? Die Hintergründe zum Themenjahr "Reformation und die Eine Welt" erläutert Thies Gundlach, Vizepräsident im Kirchenamt der EKD.

Unsere Welt ist kleiner, näher, enger geworden – vielleicht ist der schnelle Klick auf Google Earth das treffendste Symbol für unsere Welt als „global village“ („one world“): Brauchten früher Nachrichten und Waren Wochen und Monate, um zu einem anderen Erdteil zu gelangen, ist man heute in einem halben Tag in Lateinamerika. Die Nachrichten schaffen eine Gleichzeitigkeit zu allen größeren Ereignissen auf der Welt. Und nicht zuletzt „schaffen“ die in den Industrieländern erzeugten Umweltprobleme sehr schnell den Weg in andere Länder. In der einen Welt findet zur gleichen Zeit Leben in ganz unterschiedlichen Welten statt: Es gibt Leben gleichsam unter den Bedingungen des Mittelalters und Leben unter den Bedingungen hypermoderner Neuzeit.

Zur gleichen Zeit leben Menschen in extremem Reichtum und in extremer Armut, zur gleichen Zeit profitieren die einen von den Vorteilen technologischen Fortschritts in Medizin und Mobilität, während andere keinen Zugang dazu bekommen. Diese Gleichzeitigkeit macht die tiefe Zerrissenheit der einen Welt zur täglichen Erfahrung und gemeinsamen Herausforderung.

Weg zum Weltereignis

„Reformation und die Eine Welt“ – das Thema des letzten der Dekade-Jahre vor dem Reformationsjubiläum 2017 lenkt die Aufmerksamkeit auf die Reformation als Weltbürgerin (Martin Junge) in dieser globalen Welt. Die weltweite Dimension reformatorischer Wirkungen und Verantwortlichkeiten soll bewusst werden, bevor sich im Jubiläumsjahr viele Einladungen und Ereignisse auf das oft als „Mutterland der Reformation“ bezeichnete Deutschland konzentrieren.

Reformation war und ist kein lokal begrenztes Ereignis. Zwar ging ein besonderer Impuls von Wittenberg aus, von seiner damaligen Universität und den Professoren Martin Luther und Philipp Melanchthon. Aber es gab vorher, gleichzeitig und später in anderen deutschen und europäischen Orten und Ländern eigene reformatorische Bewegungen. Und auch wenn der vielzitierte Satz, erst die oberdeutsche Reformation habe die lutherischen Einsichten in die Welt hinausgetragen, nicht in jeder Hinsicht zutrifft – der Weg zur „Weltbürgerin“ ist ohne sie nicht zu denken.

Huldrych Zwingli in Zürich und Johannes Calvin in Genf haben maßgeblich die Reformation zum Weltereignis gemacht. Aber auch ohne Thomas Müntzer und den linken Flügel der Reformation, ohne Menno Simons und die Friedenskirchen, ohne John Knox und die Schotten, ohne John Wesley und die Methodisten und  viele andere mehr ist eine weltweite Verbreitung reformatorischer Gedanken nicht zu verstehen.

Die Schrift als gemeinsame Basis

Und nicht nur die Kirchen, deren Wurzeln in der Reformationszeit liegen, tragen zur weltweiten Vielfalt des Protestantismus bei. Auch aus den Missionsaktivitäten und unter den Einflüssen ihrer kulturellen Kontexte haben sich eigenständige Kirchen mit eigener Prägung entwickelt, nicht nur in Afrika und Asien, sondern auch in Lateinamerika. Selbst Pfingstkirchen gibt es, die Interesse am Erbe der Reformation und an der Feier des Reformationsjubiläums zeigen. Die „etwas andere Weltkirche“ der reformatorisch geprägten Glaubenshaltungen war immer nur in vielfältiger, ausdifferenzierter Weise präsent.

Der Versuch, fünfhundert Jahre nach dem symbolischen Ausgangspunkt – dem Thesenanschlag in Wittenberg – die Vielfalt dieser Weltkirche in Wittenberg sichtbar zu machen, ist auch ein Signal, die Zersplitterung reformatorischer Kirchen nicht als ihr alleiniges Kennzeichen zu nehmen. Gemeinsame Basis in Wort und Tat, in aller Vielfalt, ist das eine Wort Gottes, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und in den Bekenntnissen der alten Kirche ausgelegt wurde. Es bildet die Grundlage aller reformatorisch geprägten Kirchen bildet („one word“).

Vielfalt als Ausdruck der Freiheit

Wohl hat es sehr lange gedauert, bis jedenfalls die beiden Hauptströmungen der Reformationszeit in der Leuenberger Konkordie 1973 einen theologisch glaubwürdigen Weg gefunden haben, trotz ihrer bleibenden Unterschiede Kirchengemeinschaft zu leben. Aber auch die sichtbare Vielfalt kann als Reichtum verstanden werden, da sie für eine wesentliche reformatorische Einsicht steht: Als Konsequenz und Ausdruck reformatorischer Freiheit sind den Kirchen die „adiaphora“ bewusst, also die Dinge, die in Unterschiedlichkeit bestehen dürfen. Die vielen Kirchenordnungen, die verschiedenen Gottesdienstformen und auch die vielen ethischen Urteile erinnern daran, dass die Auslegung der Heiligen Schrift in aller Regel mehrere legitime Deutungen zulässt. Man tut – gerade wenn man die weltweiten Dimensionen vor Augen hat – gut daran, die Bekenntnisfrage, die über Stehen oder Fallen einer Kirche entscheidet, nicht zu schnell zu stellen.

Neben der Orientierung am Wort Gottes gehört zum gemeinsamen Verständnis reformatorischer Kirchen die Berufung zur Weltverantwortung und Weltgestaltung. Aus dem Hören auf das Wort Gottes („one word“) und dem Wissen um ein Leben in einer Welt („one world“) ergeben sich gemeinsame Aufgaben („one work“), die sich immer an den Bedürfnissen der Armen orientieren sollen.

Verantwortung übernehmen

Denn natürlich haben auch die reformatorischen Kirchen Anteil an der Zerrissenheit der einen Welt: Im Themenjahr „Reformation und die Eine Welt“ liegt es nahe, einen selbstkritischen Blick auf die Kolonial- und Missionsgeschichte mit ihren Nachwirkungen zu werfen. Die reformatorischen Kirchen sehen ihre Verantwortung und übernehmen Aufgaben in sozialen und diakonischen Projekten – manche im großen Stil, viele im kleinen, unauffälligen Stil. Nicht dass alle reformatorischen Kirchen in der Welt das Gleiche tun könnten; sie leben in zu unterschiedlichen Kontexten, als dass das möglich oder gut wäre.

Das Gemeinsame der Aufgabe ist vielmehr dadurch beschrieben, dass alles Handeln einer Art „Eine-Welt-Verträglichkeitsprüfung“ (Heinrich Bedford-Strohm) unterliegen muss. Die zähen und oft ergebnislosen Verhandlungen zum Thema Umweltschutz und Erderwärmung zeigen etwa, dass auch die reformatorisch geprägten Kirchen in dieser einen Welt mit möglichst einer Stimme verantwortliches globales Handeln einfordern sollten.

Transformation im Denken und Sprechen

Die Krise der Moderne zeigt sich auch darin, dass das Reden von Gott in die Krise geraten ist. Für viele Menschen hat das Zeugnis von Gott an Kraft und Glaubwürdigkeit verloren – und der Erfolg der (neuen) pfingstkirchlichen Bewegungen spiegelt diese Krise eher, als dass er sie bewältigt. Haben sich die reformatorischen Kirchen zu lange damit begnügt, alte Denk- und Sprechweisen zu wiederholen, statt sie weiterzuführen? Welche Transformation im Denken und Sprechen von Gott ist nötig, um von der biblischen Botschaft angesprochen zu werden?

Das Reformationsjubiläum 2017 ist ein guter Anlass, diesen Fragen nach Gott im 21. Jahrhundert gemeinsam nachzugehen: Gott in neuer Weise zu sehen, zu denken, zu erfahren, zu erkennen, weil er uns neu angesehen hat – das ist die tiefe Sehnsucht, die sich mit der Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 verbindet. Und diese Sehnsucht nach Gott braucht den Erkenntnisreichtum der anderen reformatorisch geprägten Kirchen, ja aller anderen Kirchen und auch all jener, die nach Gott und dem Nächsten fragen in der einen Welt.