Die Freiheit Gottes und des Menschen
Warum ein Bilderverbot aus reformierter Sicht richtig ist
27. Oktober 2015
Am Reformationstag geht das Themenjahr „Bild und Bibel“ im Rahmen der Lutherdekade zu Ende. Aus diesem Anlass erklärt der Kirchenpräsident der Evangelisch-Reformierten Kirche, Martin Heimbucher, warum Protestanten, die von den Schweizer Reformatoren Ulrich Zwingli und Johannes Calvin geprägt sind, Bilder und Statuen in Kirchen ablehnen und dass dafür triftige theologische Gründe sprechen.
In provozierendem Nichtdesign kam zum Reformationstag 2014 das Magazin zum EKD-Themenjahr „Bild und Bibel“ daher. Es war eingehüllt in einen blendend weißen Umschlag, und erst beim näheren Hinsehen entdeckt man auf der Titelseite etwas Figürliches: Weiß auf weiß, aufgetragen im Glanzlack, zeichnen sich die Umrisse von Füllfederhalter und Pinsel ab. Und diese sind zusammengefügt zu einem Kreuz. Ist das also das biblische Bilderverbot, der blasse Hintergrund eines in Christus versöhnten Kampfes zwischen Bild und Wort?
So lässt sich das in seiner optischen Zurückhaltung auffällige Cover vielleicht deuten. Entsprechend hat zwischen den beiden Umschlagseiten eine wahrhaft bunte Mischung Platz gefunden: anregend und ansprechend wirken Wort und Bild schiedlich-friedlich vereint – ein Magazin eben, das die Reformation als Medienereignis vorstellt und deutet.
Auch Terroristen nutzen Macht der Bilder
Dabei hatte sich der uralte Kampf zwischen Wort und Bild kaum dramatischer zurückmelden können, als zu Beginn des Themenjahres: Wenige Wochen nach Erscheinen des EKD-Heftes erlebten wir im Zentrum von Paris den Terroranschlag auf die satirische Zeitschrift Charlie Hebdo. Die Terroristen erklärten sich zu Vollstreckern des Bilderverbots. Durch ihre Untat wollten sie die vermeintlich durch Karikaturen verletzte Ehre Allahs durch Vergeltung wiederherstellen. Freilich platzierten die erklärten Feinde des Abbilds ihrerseits Bilder, mit denen sie ihre Gewalttat zu einem religiösen Kampf stilisieren wollten.
So schob sich überall in der Welt das Bild schwarzgekleideter Egoshooter vor die Wahrnehmung des Islam. Die selbsternannten Kämpfer gegen das Abbild Gottes errichteten mit ihrem Anschlag selber ein Götzenbild: Ihr Gott ist also ein in seiner Ehre verletzter gnadenloser Rächer. So bedienen sich terroristische Bilderstürmer selber der Sprache der Bilder.
Denn so faszinierend ein bildmächtiges religiöses Großereignis für Freunde und Kritiker der Kirche auch sein mag – für eine Annäherung an den unsichtbar gegenwärtigen Gott ist es ungeeignet.
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war es vor allem der Zürcher Reformator Ulrich Zwingli, der kritisch auf die Macht hinwies, die Bilder und Statuen in den Kirchen ausübten. Er schätzte das Verführungspotenzial des religiösen Bildes als so erheblich ein, dass er die bildende Kunst in der Kirche als „Götzendienst“ brandmarkte. Götzenbilder seien zwar an sich „Nichtse“. Aber wenn das Nichtige den Menschen in seinen Bann ziehe, habe die Verehrung des wahren Gottes keine Chance mehr.
Religiöses Zwangssystem
Die Austreibung der Bilder aus der Kirche und ihre zum Teil gewaltsame Zerstörung erscheinen heute als Akte der Barbarei. Und so hat die EKD kürzlich im Dialog mit der Orthodoxie ihr Bedauern über den reformatorischen Bildersturm zum Ausdruck gebracht. Waren die Reformierten also die Talibane der Reformationszeit?
Man versteht den reformatorischen Eifer gegenüber den Bildern nur, wenn man sich den Missbrauch vor Augen führt, gegen den er sich wendet: Heiligenbilder und Reliquien sind im ausgehenden Mittelalter die Anziehungspunkte einer von Klerus und weltlichen Herrschern ausgenutzten Volksfrömmigkeit. Sie beruht auf Angstmache und Ausbeutung. Wer in seiner Kirche mit den attraktivsten Bildwerken und heiligen Gegenständen aufwartet, macht den größten Umsatz.
Die Reformation hebelt dieses klerikal-ausbeuterische System aus – mit guten theologischen Gründen. Für die Schweizer Reformatoren sollten die Bilder aus den Kirchen verschwinden, weil sie als Vehikel dieses religiösen Zwangssystems galten. Nicht gegen Bilder als solche wendeten sich die Reformatoren, sondern gegen Bilder als Gegenstände des Kults. So wird der Sinn des zweiten Gebots (reformierter Zählung) neu zur Geltung gebracht: „Bete sie nicht an, und diene ihnen nicht.“
Wohltuender Verzicht in der Bilderflut
Im Effekt führte diese Ablehnung der Bilder als heiliger Gegenstände zur Befreiung der bildenden Kunst aus der Umklammerung religiöser Zweckdienlichkeit. Diesen Umstand illustriert eine Episode der Zürcher Reformation: Auf Betreiben der Stadt entfernte man die Bilder aus den Kirchen. Aber dafür machte man eine einzige stillgelegte Kirche zu einem für die Öffentlichkeit zugänglichen Museum. Dort erhielten die aus den Kirchen entfernten Kunstschätze eine neue Heimat. Die Werke wurden entsakralisiert, ihr ästhetischer Wert aber anerkannt und geschützt. Damit war eines der ersten frei zugänglichen Kunstmuseen Europas entstanden – fast zweihundert Jahre bevor der französischen Revolution mit dem Louvre in Paris ähnliches gelang.
In der Bilderflut der Gegenwart kann die gottesdienstliche Konzentration auf das Wort als wohltuender Verzicht wiederentdeckt werden. Was als Defizit erscheint, dürfte in Wahrheit religiös angemessen sein: Der Glaube an Gottes Gegenwart kann sich nicht an das Sichtbare halten, sondern ist nur gegen den Augenschein durchzuhalten – im Vertrauen.
Das heißt nicht, dass der evangelische Gottesdienst ohne Bilder auskommen kann. Denn eine wirksame Predigt bedarf der Bilder. Das gelungene Sprachbild legt unsere Phantasie nicht fest, sondern setzt sie frei. Schließlich ist die Sprache der Bibel von der ersten bis zur letzten Seite bildreich. Und Prediger tun gut daran, sich immer neu von diesen Bildern inspirieren zu lassen. Es sind die Urbilder des Glaubens, mit denen sich beispielhaft die Gegenwart des unanschaulichen Gottes illustrieren lässt.
Ein Bild wird durch das nächste in Frage gestellt
In einem Bild vermittelt die Schöpfungsgeschichte das Lebendigwerden des Menschen durch Gott: „Und Gott blies den Lebensatem in seine Nase“ (1. Mose 2,7). In bildhaften Gleichnissen vermittelt Jesus Gottes Erbarmen mit den verlorenen Menschen: Wie der Hirte über ein wiedergefundenes Schaf, so freut sich der Vater im Himmel über die Rettung der Geringsten (vergleiche Matthäus 18,14). Bilder des Trostes hält das letzte Buch der Bibel in prophetischer Tradition bereit: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen“ (Offenbarung 21,4).
So wie häufig die Verfilmung eines Romans enttäuscht, den man gelesen hat, so können auch biblische Bilder und Geschichten an Kraft verlieren, wenn man ihnen im gemalten Bild begegnet. Während sie gehört oder gelesen bei den Hörenden eigene Bilder freisetzen, binden sie gemalt unser Erleben an die Vorstellung des Malers und seiner Zeit. Gott als alter Mann mit Bart ist zum Beispiel ein Bild, das uns die Wirklichkeit Gottes heute eher versperrt, als dass es uns für seine Gegenwart öffnet. Andererseits ist zuzugestehen: In einer bibelvergessenen, erzähl- und hörfaulen Kultur verschaffen Bilder immerhin einen ersten Zugang zu biblischen Geschichten. Aber sie können das inspirierende Reden und Hören biblischer Bildworte und das Erzählen biblischer Geschichten in Gottesdienst, Predigt und Seelsorge nicht ersetzen.
„Du sollst dir kein Bild machen.“ Dieses Gebot gehört zu den Geboten der so genannten linken Tafel, denen es um die Wahrung der Gottheit Gottes geht. Aber der Schutz, den dieses Gebot gewähren will, gilt nicht allein Gott, sondern vor allem denjenigen, die es halten sollen. Die Menschen sollen davor bewahrt werden, sich an einen selbst gemachten Gott zu verlieren. Sie sollen vor der Trostlosigkeit bewahrt werden, die sich einstellt, wenn man den lebendigen Gott aus den Augen und sein Wort aus den Ohren verliert.
Der Mensch von Gott durchschaut
„Aber Gott ist doch Mensch geworden, um für uns erkenntlich zu werden“, haben die Verteidiger des Christusbildes durch die Jahrhunderte hindurch argumentiert. Doch das Gegenteil ist der Fall: Gott ist Mensch geworden, um dem Menschen Anteil an seinem Geheimnis zu geben. Wie Gott, so lässt sich auch ein Mensch im Grunde nicht abbilden. Sein Wesen entzieht sich der Fixierung in einem Bild.
„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an“ (1. Samuel 16,14). Dieser durchaus bildhafte Satz verkündigt die Befreiung des Menschen von seinem eigenen Bild. Gott verzichtet zuerst darauf, den Menschen auf sein Bild zu fixieren. Stattdessen sucht er das Herz des Menschen und berührt ihn im Innersten. Der Mensch wird von Gott durchschaut. Das könnte ihm einen Schrecken einjagen. Dabei geschieht es zu unserem Besten. Denn der Blick seiner Augen ist voller Erbarmen.
Dagegen behaften wir einander oft gnadenlos auf das schlechte Bild, das wir einmal abgegeben haben. Und das Internet speichert die Bilder unserer Missgeschicke – oder auch unserer vermeintlichen Heldentaten – auf unabsehbare Zeit. Anders der ewige Gott: Seine Augen tilgen die alten Bilder und suchen unermüdlich unser Herz. Das biblische Bilderverbot impliziert ein Humanum: Der Mensch sei geschützt vor dem Bild, das sich andere von ihm machen. Er sei aber genauso geschützt vor dem Bild, das er selbst von sich hat.
Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911–1991) hat Recht: „Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat. Die Liebe aber hält uns in der Schwebe des Lebendigen.“