Gemeinsames Wort der Erzbischöfin der Kirche von Schweden und des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur aktuellen Flüchtlingskrise

”Ich bin fremd gewesen, und ihr habt mich aufgenommen” (Mt 25,35)

Logos EKD und Church of Sweden

Zurzeit sind weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren es nicht so viele. Die große Mehrzahl sucht Schutz im eigenen Land oder lebt in benachbarten Ländern, zum Teil in Flüchtlingslagern. Die Hälfte aller Flüchtlinge sind Kinder.

Vor 70 Jahren musste ein Europa in Ruinen mehr Menschen eine neue Heimat geben als ein relativ wohlsituiertes Europa heute. Damals gab es keine Wahl, aber es gab Hilfe von außerhalb. Heute meinen einige, wir hätten eine Wahl. Einige sorgen sich, dass die Belastungen durch Menschen auf der Flucht gerade unsere Länder zu hart treffen.

Als Bischöfe sehen wir in unseren Kirchen und Gesellschaften immer wieder beides: den festen Willen, flüchtenden Menschen Hilfe und neue Heimat zu geben, und die Unruhe, dass unsere Wohlfahrtssysteme dem dadurch entstehenden Druck nicht gewachsen sind.

Deshalb ist es uns wichtig, folgendes zu sagen:

Wir dürfen und können vor Menschen in Not unsere Augen nicht verschließen. Menschen in Not brauchen Hilfe. Die Bibel betont immer wieder die Verantwortung gerade für Fremde und Heimatlose. Jesus hat sich mit ihnen identifiziert: „Ich bin fremd gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.”

In den vergangenen Wochen ist eine Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit aufgeblüht, die für uns und viele andere eine wunderbare Erfahrung ist.

Zäune aufzurichten, um den eigenen Wohlstand vor der Not der anderen zu schützen, kann für ein Europa, das sich auf christliche Grundorientierungen beruft, kein Weg sein. Denn Wohlstand verpflichtet.

Auf lange Sicht kann niemand seine eigene Menschenwürde bewahren, wenn gleichzeitig die Würde der Nachbarn mit Füssen getreten wird.

Frauen, Kinder und Männer, die vor Krieg und Gewalt fliehen, brauchen Schutz und die Möglichkeit, Heilung zu erfahren. Dafür ist materielle Hilfe ebenso wichtig wie psychosoziale Unterstützung. Wir können die Unheilsspirale durchbrechen, die durch traumatische Erlebnisse bei Einzelnen und ganzen Gruppen entsteht. Dafür ist die Erfahrung guter Nachbarschaft von entscheidender Bedeutung.

Mitmenschlichkeit ist eine der größten Stärken, über die wir Menschen verfügen. Ohne sie verarmt auch die reichste Gesellschaft.

Zugleich beunruhigt uns die politische Entsolidarisierung in der Europäischen Union in dieser humanitären Notlage. Wir halten es für dringend notwendig – im wahrsten Sinne des Wortes: Not wendend – dass die Regierungschefs der Europäischen Union ihre Verhandlungen intensivieren und eine Einigung im Sinne der Schutzsuchenden in folgenden Punkten erzielen:

  • Die Einrichtung von sicheren und legalen Zugangswegen, um zu verhindern, dass Menschen auf dem Weg nach Europa ausgenutzt werden oder ums Leben kommen. Dazu gehört auch die großzügige Einrichtung von Flüchtlingskontingenten. Ein weiteres Instrument sind humanitäre Visa, welche die EU-Botschaften im Ausland bewilligen können, um Menschen die reguläre Einreise in die EU zu ermöglichen, die Asyl beantragen möchten. Darüber hinaus muss es möglich sein, über Familienzusammenführungen und Stipendien für Studien nach Europa zu kommen. 
  • Es muss dringend eine ernsthafte Einigung auf eine effektive europäische Flüchtlingspolitik erzielt werden. Solidarität und gemeinsame Verantwortung gehören zu den Grundlagen in der EU. Diese Prinzipien gelten nicht nur, wenn es um Wirtschaft und Finanzen geht, sondern auch und besonders, wenn es um Menschen geht. Die Schutzsuchenden, die in Europa ankommen, müssen in der gesamten EU mit Würde und Humanität behandelt werden.
  • Die Weltgemeinschaft muss sich in den Heimatländern der Fliehenden mit den Ursachen ihrer Flucht auseinandersetzen. Diplomatische Anstrengungen müssen von den Regierungen auf allen Ebenen intensiviert werden, um friedliche Lösungen beispielsweise in Syrien zu erreichen. Die Weltgemeinschaft muss dazu in der Lage sein, Terrorgruppen und Unterdrückern den Zugang zu Waffen und Geld zu sperren.

    In Diskussionen wird mitunter auf die Wahrung eines „christlichen Europa“ verwiesen. Dabei geht es in den seltensten Fällen um einen Aufruf zur Nächstenliebe. Vielmehr dient „das christliche Europa“ als Grund, zur Abgrenzung und Abschottung Europas aufzurufen. Das können wir nicht unwidersprochen lassen. Es gehört zum Grundbestand christlicher Werte, Menschen in Not die Tür zu öffnen. Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit dürfen in dieser humanitären Katastrophe auf unserem Kontinent nicht infrage stehen.


„Ich bin fremd gewesen, und ihr habt mich aufgenommen” (Mt 25,35)


Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Prof. Dr. Antje Jackelén
Erzbischöfin der Kirche von Schweden