Frieden kennt kein Datum

Zum Antikriegstag am 1. September Eindrücke aus Belgrad zum Kriegsende vor rund 70 Jahren

1. September 2015

antikriegstag
Mosaike für den Bremer "Friedenstunnel". Insgesamt soll das Wort "Frieden" dort in etwa 150 Sprachen übersetzt werden. (Foto: epd-bild/Dieter Sell)

Am 1. September wird weltweit der "Weltfriedenstag" begangen, der auch als "Antikriegstag" bezeichnet wird. Er soll zum Weltfrieden aufrufen und erinnert an den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Am 1. September 1939 fiel die Wehrmacht in Polen ein. Doch wann ist ein Krieg zu Ende? Wann herrscht wieder Frieden in einem Land? In den Erinnerungen vieler vom Krieg Betroffener gibt es verschiedene Zeitpunkte an denen der Zweite Weltkrieg endete. Eindrücke von Pfarrer Hans-Frieder Rabus von der Deutschen Evangelischen Kirchengemeinde Belgrad.

Deutsche Lehnwörter im Serbischen bringen mich öfters zum Schmunzeln: "knedla" (Knödel), "majstor" (Handwerker), – aber bei "generalstab" oder gar "logor" vergeht mir das Lachen. Es bedeutet (Konzentrations-)Lager – und das lag an der Sava auf dem alten Belgrader Messegelände. Die Deutschen hatten Belgrad im April 1941 bombardiert und vier Jahre fürchterlich gewütet im Land. Tausende von Zivilisten als Vergeltung für Partisanenüberfälle erschossen; Juden, Roma, missliebige Serben in Konzentrationslager verbracht. Aus Kroatien hatten sie einen Vasallenstaat Deutschlands gemacht: Die renitenten Serben sollten auch auf kroatischem Gebiet gefügig gemacht werden, indem man sich die serbenfeindliche Terrorbewegung "Ustascha" als Marionettenregierung hielt und ihr freie Hand gab zu Gewalttaten – ein Keim der späteren Jugoslawienkriege.

Der Dorfbüttel kündigt trommelnd die Befreier an

Der Krieg war für Belgrad schon am 20. Oktober 1944 zu Ende: Die 3. Ukrainische Front der Roten Armee hatte zusammen mit jugoslawischen Partisanenverbänden die Stadt befreit. Das wurde vergangenes Jahr mit einer Militärparade für den Ehrengast Wladimir Putin gefeiert. Die Belgraderin Milena R. erzählt: Sie war elf, als sie mit Mutter und Schwester bei Verwandten im serbischen Bergland Zuflucht suchte. Im Haus waren zwei Zimmer von der deutschen Besatzung beschlagnahmt, doch ständig bekamen andere Truppen die Oberhand: "Zwei Nächte Tschetniks, zwei Nächte Deutsche, zwei Nächte Partisanen". So erfährt das Kind, dass in Jugoslawien nicht nur Krieg gegen die deutschen Besatzer geführt wurde, sondern zugleich ein erbitterter Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Widerstandsgruppen und Geheimarmeen tobte: königstreue Tschetniks, kommunistische Partisanen, ethnisch-nationalistische Faschisten.

Eines Tages trommelt der Dorfbüttel durch die Straßen: "Unsere Befreier, die Russen, kommen!" Wenig später fährt ein Junge laut rufend mit dem Fahrrad durchs Dorf: "Es kommen nur zwei!" (Panzer) – und alle lachen. Doch damit war der Krieg für Milena nur äußerlich zu Ende. Ein jahrelanger Gesinnungskrieg begann, in dem die begabte Schülerin diskriminiert wurde, gar der Konterrevolution bezichtigt, nur weil sie zum Karfreitagsgebet mit Freundinnen kurz in die Kirche gegangen war. Als 20-Jährige hielt sie den Druck nicht mehr aus und floh nach Deutschland. Stuttgart wird schließlich ihre deutsche Heimat. Dort hat sie sich für die örtliche serbisch-orthodoxe Gemeinde und für die Integration ihrer serbischen Landsleute hochverdient gemacht.

"Dort oben hat mein Vater die Orgel gespielt, bis wir fliehen mussten"

An diesen Satz von Maria K. denke ich oft, wenn ich zum Gottesdienst in unsere Kirche komme: 1929 von evangelischen Deutschen erbaut in Belgrad-Zemun, enteignet bis heute – längst keine Orgel und kein Altar mehr da. Zehn Jahre alt war Maria K., als die Donauschwaben im Spätsommer 1944 angewiesen wurden, vor der heranrückenden Roten Armee nach Österreich zu fliehen. Was sie bei ihrem Besuch vor einiger Zeit mir erzählt hat an herzbewegenden Nöten – und auch Wundern – auf dem weiten Fluchtweg nach Westen, kann ich nicht vergessen. Die Donauschwaben galten im neuen Jugoslawien kollektiv als Kriegsverbrecher: mitverursacht durch die Tatsache, dass viele Männer (ob freiwillig oder gezwungenermaßen) zur Waffen-SS gehört haben. Die Dörfer der verbliebenen Deutschen wurden umzäunt und jahrelang zu Konzentrationslagern gemacht.

Gedenkfeier auf dem Friedhof von Gakovo bei Sombor letzten Herbst: Hier liegen 8500 Donauschwaben in Massengräbern. Bei der Gedenkfeier am Kreuz nimmt der Parlamentspräsident der Vojvodina die Rede von einer Kollektivschuld der Deutschen öffentlich zurück. Und beim Empfang stoßen donauschwäbische Gäste, Nachkömmlinge von Deutschen im Land, Menschen serbischer, ungarischer, slowakischer, kroatischer Herkunft fröhlich miteinander an: Živeli – auf das Leben!

"Da bin ich zum ersten Mal aus dem KZ hinausspaziert"

Ivan Ivanji war 15 Jahre alt, als er mit seiner jüdischen Familie aus Serbien über Auschwitz ins KZ Buchenwald deportiert wurde. Der alte Mann mit den lebhaften Augen erzählt: "Kriegsende war für mich der 11. April 1945. Da wurde Buchenwald befreit". "Oder war für mich der Krieg am 13. April zu Ende? Da bin ich zum ersten Mal aus dem KZ hinausspaziert". Es wird richtig still im Belgrader Pressezentrum. Die Oberstufenschüler der Deutschen Schule Belgrad erleben Geschichtsunterricht zum Anfassen. Neben Ivan Ivanji, der in den Siebzigerjahren Titos Dolmetscher war, sitzt sein Freund Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Stiftung Buchenwald bei Weimar. Zusammen mit ehemaligen Politikern, einem Kroaten, einem Serben und einem Historiker, diskutierten sie am 8. Mai über die Frage: Ist der Faschismus in Europa für immer ausgerottet? Welche Lehren sind aus dem Sieg über Nazi-Deutschland für heute zu ziehen? Warum ist es notwendig, sich mit der Vergangenheit zu befassen?

Am nächsten Tag kommt der Unbekannte in den Gottesdienst

Samstag, 9. Mai. Die Parade vom Moskauer Roten Platz wird auf einer Großbildleinwand übertragen. Volksfeststimmung. Als die mitmarschierenden serbischen Soldaten im Bild sind, klatschen die Leute. Manche halten serbische und russische Flaggen hoch. Andere plädieren mit dem Konterfei des letzten Zaren für eine Partei, die gegen den EU-Beitritt Serbiens kämpft. Der Mann neben mir hat als Ingenieur in Stuttgart gearbeitet. Putin finde er prima. Ich habe Mühe, ihm jedenfalls als Lippenbekenntnis abzuringen, dass militärische Grenzverletzungen und Annexionspolitik nicht zu den Spielregeln des "Friedensprojekts EU" gehören. Er verweist auf das Kosovo, wo die NATO mit deutscher Beteiligung dasselbe gemacht habe wie Putin mit der Krim: erstmals seit 1945 neue Landesgrenzen in Europa militärisch durchgesetzt. Zugleich findet er den serbischen Ministerpräsidenten Aleksandar Vucic gut. Der will sein Land entschlossen in die EU führen und die Korruption bekämpfen. Am nächsten Tag kommt der Unbekannte in unseren Gottesdienst nach Zemun und bedankt sich dafür. Er wolle wiederkommen.

Wann ist ein Krieg zu Ende? Wenn alte Menschen den jüngeren von ihren Kriegserlebnissen erzählen können, ohne dass eine Anklage mitschwingt gegenüber jungen Angehörigen einer "Täternation"? Endet ein Krieg, was Erinnerungen und seelische Verletzungen betrifft, bei Betroffenen möglicherweise niemals ganz? Tags darauf lerne ich einen Serben kennen. Sein Vater: Bosnier. Seine Mutter: deutsche Donauschwäbin. Sein Familienname: balkan-islamisch klingend. Seine Religion: katholisch. Seine Arbeit: junge Serben – künftige Verantwortungsträger – für Demokratie, persönliche Existenzgründung und wirtschaftliche Kompetenz fit zu machen. Durch Schulungen, internationale Begegnungen oder Stipendien. Das Geld dazu kommt aus Deutschland, über eine Nichtregierungsorganisation. Das Ziel: in Freiheit leben – Frieden.

Hans-Frieder Rabus


Foto: privat
Foto: privat
Hans-Frieder Rabus ist Pfarrer der Deutschen Evangelischen Kirchengemeinde in Belgrad. Der württembergische Theologe war von 1997 bis 2006 Dekan des Kirchenbezirks Ludwigsburg. 2012, nach Eintritt in den Ruhestand, bewarb er sich für den ehrenamtlichen Dienst in einer Auslandsgemeinde. Im März 2013 begann seine Tätigkeit in der serbischen Hauptstadt.