Langfristiges Engagement: Kirchen unterstützen Flüchtlinge nicht erst seit Kurzem

Die Aktivitäten in Gemeinden, Landeskirchen und Diakonie sind vielfältig

27. August 2015

Kerstin Sommer (rechts) unterstützt eine kurdische Flüchtlingsfamilie, die vor dem IS aus Syrien geflohen ist.
Kerstin Sommer (rechts) unterstützt eine kurdische Flüchtlingsfamilie, die vor dem IS aus Syrien geflohen ist. (Foto: epd/Dieter Sell)

Nicht erst durch die rasant ansteigenden Flüchtlingszahlen ist die Unterstützung von Menschen in Not für die Kirchen eine Thema geworden. Gerade erst haben Kirchenvertreter beider Kirchen klar gemacht, dass sie sich weiter intensiv um die betroffenen Menschen kümmern: "Flüchtlinge haben ein Recht darauf, als Menschen in Not Hilfe und Unterstützung zu erhalten", sagte der stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Jochen Bohl. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm hat schon vor einiger Zeit klar gemacht: „Humanitäre Hilfe ist nicht nur ein Gebot der Nächstenliebe, sondern des Völkerrechts.“ Bereits vor zwei Jahren haben der damalige Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, und der Flüchtlingsbeauftragte der Bischofskonferenz, Norbert Trelle, gemeinsam syrische Flüchtlinge besucht. Projekte wie beispielsweise "Alleinreisende Jugendliche" des Diakonischen Werkes Oderland-Spree gibt es schon seit 22 Jahren:

Als Ewaz Ali Rahimi seine Heimat Afghanistan verlässt, ist er 15 Jahre alt. Seine Mutter hat ihn in Masar-e-Sharif in einen Bus gesetzt – aus Angst, er würde wie sein Vater von Taliban getötet. Ewaz reist allein. Ein Trip ohne Rückfahrticket. Schließlich landet er auf dem Berliner Flughafen Schönefeld und wird in die Erstaufnahmestelle für Asylbewerber in Eisenhüttenstadt gebracht. Dort stellen die Beamten schnell fest, dass Ewaz minderjährig und allein ist. Sie wählen die Nummer des Jugendprojekts "Alleinreisende Jugendliche", kurz ALREJU. Sie bietet rund 63 Jugendlichen eine Zuflucht auf Zeit. Sie leben in Wohngruppen zusammen, erhalten Hilfe und Unterstützung auf dem Weg in ein neues Leben. Seit zwei Jahren ist Ewaz jetzt dort. Er hat Deutsch gelernt, Freunde gefunden und ein Ziel vor Augen: er will die Fachoberschulreife und anschließend eine Ausbildung zum Bürokaufmann machen.

ALREJU ist ein Beispiel für das Engagement von Kirche und Diakonie für Flüchtlinge in Deutschland. Angesichts der stark steigenden Zahlen von Asylbewerbern werden die Anstrengungen noch einmal verstärkt. Viele Landeskirchen stellen zusätzliche Geldmittel – die Summen liegen zwischen 200.000 und über einer Million Euro – bereit, um neue Projekte zu fördern und Ehrenamtliche zu unterstützen. Denn letztere sind die Hauptakteure an der Basis, in den Kirchengemeinden.

Begleitung und Beratung

Ehrenamtliche begleiten Asylbewerber durch das Dickicht der Behörden, versorgen sie mit Kleidung, erteilen Sprachunterricht oder helfen später bei der Suche nach einer Wohnung. Die Arbeit mit den Flüchtlingen, die aus anderen Kulturen kommen und oft auch traumatisiert sind, ist anspruchsvoll. Dafür brauchen Ehrenamtliche Begleitung. Die Evangelische Landeskirche in Baden hat deshalb die Zahl ihrer Beratungsstellen für Ehrenamtliche drastisch aufgestockt. Sie sind nun an 16 Standorten über das ganze Kirchengebiet verteilt zu finden. Gemeinsam mit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und den katholischen Bistümern nähere man sich einem flächendeckenden Angebot, sagt Annette Stepputat, landeskirchliche Beauftragte für die Flüchtlingsseelsorge in Baden.  Auch die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens hat sechs neue Beraterstellen geschaffen. Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck entwickelte ein Fortbildungs-Modell, das in schriftlicher Form vorliegt und von den Ehrenamtlichen selbst angewendet werden kann.

In der Beratung von Flüchtlingen während des Asylverfahrens sowie von anerkannten Flüchtlingen und Migranten mit Arbeitserlaubnis sind die Diakonischen Werke stark engagiert. Sie betreiben bundesweit rund 180 Fachdienste für Asylsuchende und mehr als 400 Stellen zur Migrationsberatung. Die Stellen sind teilweise kirchlich, teilweise kommunal finanziert.

Pfarrhaus und Grandhotel

Ein großes Thema ist die Unterbringung der Menschen. Die Kommunen suchen händeringend nach geeigneten Quartieren, die sie anmieten können. Kirchengemeinden stellen bereits Wohnraum zur Verfügung, etwa in Pfarrhäusern wie in Bergisch-Gladbach, wo eine bosnische Familie unterkam. Die Bischöfe von Baden und Württemberg  appellierten jüngst an ihre Gemeinden, noch mehr anzubieten. Ralf Meister, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, ging mit gutem Beispiel voran und nahm zwei junge Männer aus Afghanistan in einer Einliegerwohnung seiner Bischofskanzlei auf.  Vereinzelt stellen die Kirchen  auch größere Quartiere bereit – zum Beispiel in der Evangelischen Schule Gaienhofen und bei der Diakonie Mosbach  (beides Evangelische Landeskirche in Baden).

Ein Wohnprojekt außergewöhnlicher Art ist das Grandhotel Cosmopolis im bayerischen Augsburg. Unter dem Dach eines ehemaligen Altenheims der Diakonie finden eine Flüchtlingsunterkunft, ein Hostel, verschiedene Ateliers, eine Gaststätte und ein Café Platz. Die Macher beziehen sich dabei auf die vom Künstler Joseph Beuys entwickelte Idee der sozialen Plastik.

Schulbesuch für Flüchtlingskinder

Die meisten Flüchtlinge leben freilich in Sammellagern – und das oft über lange Zeiträume. Brennpunkte sind die Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer. Auch dort ist die Kirche deshalb sehr präsent – bei der Beratung im Asylverfahren, aber auch in der Betreuung durch Ehrenamtliche. Um die Bewohner des Erstaufnahmelagers in der Münchner Bayernkaserne etwa kümmern sich Mitglieder der örtlichen Kirchengemeinde. Sie gründeten eine Kleiderausgabe, die inzwischen vom Diakonischen Werk betrieben wird, organisieren Deutschkurse, Mütterberatung, Spielenachmittage und Ausflüge. In Osnabrück (Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers) hat die Diakonie selbst die Trägerschaft der im Dezember 2014 neu eröffneten Erstaufnahmeeinrichtung übernommen. Auch in Schleswig-Holstein betreut die Diakonie mehrere Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge.

In Erfurt und Bad Langensalza (Evangelische Kirche in Mitteldeutschland) sollen jetzt die ersten Flüchtlingskinder in evangelische Ganztagsschulen gehen. Schon seit Monaten besucht ein syrisches Mädchen die evangelische Grundschule Sömmerda. Die Evangelische Schulstiftung in Mitteldeutschland hat ein Flüchtlingshilfsprogramm aufgelegt und einen Spendenaufruf gestartet. Die Flüchtlingskinder brauchen kein Schulgeld zu zahlen. Die Kosten übernimmt die Stiftung, so wie auch bei einheimischen finanzschwachen Familien. Auch die Eltern sollen Sprachangebote am Nachmittag erhalten. Auch im Kirchenkreis Mecklenburg (Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland) nehmen evangelische Kindertagesstätten und Schulen in diakonischer Trägerschaft Flüchtlingskinder auf.

Einstieg ins Berufsleben

Traumatisierte Menschen brauchen eine besondere, professionelle Betreuung. Auch die leistet die Diakonie in psychosozialen Zentren, die es an vielen Orten gibt. Drei diakonische Einrichtungen in Lübeck, Havetoft und Neumünster bieten zusammen über 100 Plätze für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge an. Mit dem Projekt Flow unterstützt die Gemeindediakonie Lübeck Jugendliche unter anderem beim Deutschlernen und der Integration in Sportvereine.

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist für Flüchtlinge und Migranten mit Hürden gespickt. Ein neues Projekt der Evangelischen Kirche der Pfalz kümmert sich in die Ludwigshafen um die Eingliederung ins Berufsleben. Dabei arbeitet die Kirche mit der Bundesagentur für Arbeit, Jobcentern und Arbeitgebern zusammen. Auch eine Magdeburger Gemeinde versucht, Menschen im Asylverfahren in Arbeit zu bringen. Viele Flüchtlinge haben akademische Abschlüsse oder Berufsausbildungen, die hier aber erst anerkannt werden müssen. Die Zentrale Anlaufstelle Anerkennung der Diakonie Hamburg unterstützt Menschen mit ausländischen Zeugnissen auf dem Weg durch das Labyrinth deutscher Behörden.

Auch die Situation an den EU-Außengrenzen haben die Landeskirchen im Blick. So unterstützt die Evangelische Kirche im Rheinland etwa die Flüchtlingsarbeit der kleinen Evangelischen Kirche in Marokko (Eglise Evangélique au Maroc). Gemeinsam mit der Evangelischen Kirche von Westfalen fördert man jetzt auch zwei Projekte auf der griechischen Insel Lesbos, die den dort gestrandeten Bootsflüchtlingen Nahrung, Kleidung, Unterkunft und medizinische Hilfe geben.

Viele Gruppen, Initiativen und Organisatoren engagieren sich für Flüchtlinge. Vernetzung und Abstimmung ist zunehmend gefragt. Die Stiftung "Gute Tat", in der auch Bischof Markus Dröge engagiert ist, wurde vom Berliner Senat beauftragt, künftig eine Hotline für ehrenamtliche Flüchtlingsversorgung in Berlin zu koordinieren. Im Moment gebe es keinen Überblick über die verschiedenen Initiativen in der Stadt. Die Stiftung will Informationen über die Projekte bündeln und dazu unter anderem eine Datenbank erstellen.

Jörg Echtler (ekd.de)