Japan: Aufarbeitung und Aussöhnung

Wie die deutsche Auslandspfarrerin in Tokyo den 70. Jahrestag von Hiroshima erlebt

6. August 2015

Atombomben-Mahnmal in Hiroshima
Eine Ruine erinnert als Mahnmal an den Bombenabwurf. (Foto: privat)

Am 6. und 9. August 1945 fielen Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Das bis dahin Unvorstellbare geschah: Es war der allererste Einsatz von Atomwaffen überhaupt. Ziel war es, einen schrecklichen, langjährigen Krieg endlich zu beenden. Japan  sollte in die Knie gezwungen werden - und mit diesem furchtbaren Ereignis gelang es: Japans Kapitulation am 2. September beendete den 2. Weltkrieg auch in Asien, nachdem er  bereits im Mai in Europa mit der Kapitulation Deutschlands beendet wurde.

Die Bomben hatten verheerende Auswirkungen: Über 90.000 Menschen starben sofort, weitere 130.000 bis Ende 1945, darunter hauptsächlich japanische Zivilisten, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die nach Japan verschleppt wurden. Weitere Opfer der sogenannten Spätschäden kommen hinzu, und bis heute leiden Menschen unter den Folgen der atomaren Verstrahlung.

Pilgerstätte nicht nur für Pazifisten

Das ist jetzt 70 Jahre her. Grund genug, nicht nur in Japan mit nationalen und internationalen Gedenkfeiern an dieses besonders schreckliche Ereignis zu erinnern.

Hiroshima und Nagasaki sind ohnehin zu Pilgerstätten nicht nur für Pazifisten avanciert. Es gibt wohl kaum einen Japantouristen, der nicht wenigstens eine der beiden Städte und deren Mahn- und Gedenkstätten besucht. Auch die hier lebenden Deutschen, zumindest die, denen ich begegnet bin, waren alle schon einmal dort. Und in der Deutschen Schule Tokyo Yokohama, in der ich Religion unterrichte, gehört eine Klassenfahrt nach Hiroshima zum Programm.

Verbindung zu Deutschland

Die geschichtliche Aufarbeitung der Folgen eines Angriffskrieges und der damit zusammenhängenden Kriegsschuld ist immer eine besondere Herausforderung für eine Nation – sei es Deutschland, sei es Japan. Das verdeutlichte auch eine Rede der Bundeskanzlerin während ihres Besuchs im März. Glücklich, auch eingeladen worden zu sein, saß ich gefesselt im Auditorium, als Angela Merkel davon sprach, dass der Umgang mit und die Aufarbeitung der Kriegsschuld Deutsche und Japaner verbinde.

Natürlich könne und werde sie Japan diesbezüglich keine Ratschläge erteilen. Aber sie betonte, wie wichtig die Aussöhnung Deutschlands mit seinen Nachbarn und einstigen Kriegsgegnern wie etwa Frankreich gewesen sei. Möglich wurde dies, weil sich Deutschland der Auseinandersetzung mit seiner Geschichte gestellt habe und immer wieder stelle. Mir sind diese Worte klar in Erinnerung – und für mich persönlich sind sie ein sehr angemessenes Gedenken des Kriegsendes vor 70 Jahren.

Verfassung soll geändert werden

Schaut man die jüngsten politischen Entwicklungen an, kann man eine gewisse Unruhe und zum Teil sogar Empörung unter Japanern wahrnehmen, was das Aufarbeiten der eigenen Geschichte betrifft. Seit 1946 ist Japan pazifistisch. Im berühmten Artikel 9 der Verfassung findet sich ein Absatz, der kriegerische Aktivitäten sowie den Unterhalt von Streitkräften verbietet. Wortwörtlich heißt es: „In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.“

Weltweit weisen Kritiker darauf hin, dass dies schon lange nicht mehr der Realität entspreche. Und jetzt erwägt die Regierung unter dem wiedergewählten Premierminister Shinzo Abe über kurz oder lang sogar eine Gesetzesänderung. Künftig soll das Land das Recht auf "kollektive Selbstverteidigung" haben. Dies bedeutet faktisch, dass Japan in internationalen Konflikten an der Seite von Verbündeten kämpfen könnte, selbst wenn es nicht direkt angegriffen wird. Begründet wird dieses Vorhaben mit der veränderten Sicherheitslage im asiatisch-pazifischen Raum.

Jubiläum und Gedenken

Immer wieder kann man hier in Tokyo und in anderen Städten Japans erleben, wie Menschen auf die Straße gehen und lautstark gegen diese Politik protestieren. Die Kirchen im Land – rund 2 Prozent der Japaner sind Christen – buddhistische Verbände, aber auch prominente Einzelpersonen wie der Schriftsteller und Nobelpreisträger Kenzaburo Oe rufen zum aktiven Widerstand gegen die geplante Verfassungsänderung auf.

Der 70. Jahrestag des Kriegsendes scheint ein besonders geeignetes Datum dafür zu sein.

In unserer Gemeinde werden wir im Gottesdienst am 18. Oktober, wenn wir unser 130-jähriges Gründungsjubiläum feiern, auch an das Kriegsende erinnern. Für die Deutsche Gemeinde Tokyo-Yokohama hat der 2. Weltkrieg deshalb besonders traurige Bedeutung, weil durch die Bombardierungen Tokyos in den letzten Kriegsmonaten die zweite Kirche der Gemeinde vollkommen zerstört wurde.

Zwei Kirchen zerstört

Im Herbst 1885 wurden von dem Schweizer Missionar Wilfried Spinner zwei Kirchengemeinden an zwei Standorten gegründet: in Yokohama und in Tokyo. Spinner reagierte damit auf die ständig wachsende Zahl deutschsprachiger Menschen, die sich im Ballungsgebiet – der damals am meisten industrialisierten und dichtesten besiedelten Region weltweit – ansiedelten, um sie „auch geistlich zu sammeln und zu versorgen“. Die erste Kirche, die 1887 in der Nähe der kaiserlichen Palastgärten gebaut werden konnte, wurde beim großen Kanto-Erdbeben 1923 zerstört. Durch Spenden wurde es möglich, am selben Ort eine neue Kirche zu bauen, die 1927 eingeweiht wurde.

Der Ausbruch des Krieges 1937 brachte es mit sich, dass die meisten Mitglieder der inzwischen zusammengelegten Gemeinde aus Tokyo evakuiert wurden. Bei Luftangriffen im Sommer 1945, bei denen die Stadt Tokyo zu fast 50 Prozent zerstört wurde, wurde dann auch die 1927 erbaute Togozaka-Kirche von Brandbomben vernichtet.

Nachdem später das Grundstück verkauft und ein anderes im südwestlich gelegenen Gotanda erworben wurde, konnte die Gemeinde 1959 die dritte Kirche, die Kreuzkirche, einweihen, in der sie sich bis heute versammelt.

Wir sind eine kleine Auslandsgemeinde deutschsprachiger Christen mit derzeit etwa 70 Mitgliedsfamilien. Es sind Menschen, die für einige Jahre oder auch länger hier leben und für deutsche oder internationale Firmen arbeiten. Aber auch Japaner sind darunter, die gut Deutsch sprechen, mal in Deutschland studiert oder gelebt haben. Wir praktizieren ein „uniertes Gemeindeleben“, in dem Menschen lutherischen ebenso wie reformierten Bekenntnisses willkommen sind, auch wenn der sonntägliche Gottesdienst derzeit gemäß der lutherischen Agende gefeiert wird.

Gabriele Zieme-Diedrich


Gabriele Zieme-Diedrich ist Pfarrerin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO).  Seit August 2012 ist sie im Auslandsdienst an der Kreuzkirche in der japanischen Hauptstadt Tokyo tätig.