Klug werden mit und ohne Promis

35. Deutsche Evangelische Kirchentag unter dem Leitwort "damit wir klug werden" steht der

6. Juni 2015

Kirchentagsfahnen (Foto: EKD / was)
(Foto: EKD)

Stuttgart (epd). Wer auf dem Kirchentag Promis aus der Nähe sehen will, muss früh aufstehen. Schon um 8 Uhr ist die U-Bahn zum Veranstaltungsgelände gut gefüllt. Er wolle mal die Bundeskanzlerin live erleben, sagt ein Mann. Angela Merkel ist aber erst für 11 Uhr ankündigt. In der Hanns-Martin-Schleyer Halle spricht sie, Titel der Veranstaltung: "Digital und klug".

Carolin Gottfried (35) und Simone Schlör (23) sitzen schon früh weit vorne und verteidigen ihre Plätze. Gleich legt zwar noch der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Bibel aus. Doch das ist für die Frauen eher das Vorprogramm. "Merkel muss man gesehen haben", sagen sie am Freitagmorgen. Ob sie selbst gemäß dem Kirchentagsmotto "damit wir klug werden" tatsächlich neue Erkenntnisse gewinnen, sind sie sich nicht so sicher. Aber es interessiert sie, was die Frau zur digitalen Klugheit zu sagen hat, die noch vor zwei Jahren erklärte, dass das Internet Neuland sei.

Noch bis Sonntag beschäftigen sich rund 97.000 Dauerteilnehmer und Tausende von Tagesgästen in 2.500 Veranstaltungen mit Gott und der Welt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen Flüchtlingsfragen, Homo-Ehe und Kritik am Finanzsystem. Und tatsächlich scheint die politische Prominenzdichte bei Kirchentagen immer höher zu werden, fast alle deutschen Spitzenpolitiker sprechen in Stuttgart über Gerechtigkeit, Frieden, Flüchtlinge, Finanzkrisen und ungerechte Wirtschaftsordnungen. Am Donnerstag legten allein vier Kabinettsmitglieder denselben Text aus dem Lukasevangelium aus und beschäftigten sich mit Macht, Geld und Gerechtigkeit. Am Freitag traten unter anderem Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Vizekanzler Sigmar Gabriel und der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff auf.

Carolin Gottfried und Simone Schlör sammeln Prominente: Margot Käßmann, die am Donnerstag in derselben Arena vor fast 10.000 Menschen, sprach gehört für sie ebenso dazu wie Kofi Annan. Drei 15-Jährige sind gespannt, "wie sich die Kanzlerin darstellt". Zwei Frauen aus Norddeutschland waren am Donnerstag schon um 5.45 Uhr in ihrem Sammelquartier aufgestanden, um die Theologin und Reformationsbotschafterin Käßmann zu hören. Zwei Rentner schwärmen von der intensiven Diskussion, die Bundespräsident Joachim Gauck und der Soziologe Hartmut Rosa am Donnerstag ebenfalls vor 10.000 Menschen über das Für und Wider des Wachstums führten. Da seien sie durchaus klüger geworden, sagen sie.

Unterdessen strömen die Menschen zur Kanzlerin, vorbei an einem Buchstand der Kirchentagsbuchhandlung. Dort liegen sie alle aus, die Stars des Kirchentags. Und werden auch gekauft, sagt Buchhändlerin Ulrike Siegel. Bei Käßmann sei manch einer schon etwas überdrüssig, doch ihre neuen Bücher über Sterben und Frieden liefen gut. Und selbst die Bücher des Soziologen Rosa, keine leichte Kost, hätten Zuhörer gekauft und gesagt: "Dann strengen wir uns mal an."

Ganz anders erlebt ein Pfarrer den Kirchentag, der sich schon seit 20 Jahren keine Prominenten mehr anhört: zu voll, zu früh, sagt er. Er sitzt mit einem Kaffee vor einer Zelthalle im Schatten - ein Platz, der bei hochsommerlichen Temperaturen schon am frühen Vormittag begehrt ist. Er lasse sich einfach treiben, suche Inspiration und werde so vielleicht auch klüger.

Das tun viele andere ebenso. Eine 65-Jährige sucht vor allem "Kontemplation und Konzerte". Und die Hitze lähmt manch unternehmerischen Geist, die Zelthallen heizen sich auf, in den Bahnen ist es eng und stickig. Rainer Sanders (69) aus Oldenburg indes ist durch eine zufällige Begegnung klüger geworden: Mit einem Paar aus Thüringen habe er eine Stunde lang über Ost und West gesprochen.

Wiebke Rannenberg (epd)