Wirken bis in die Gegenwart

Bonhoeffer in London

08. April 2015

Dietrich Bonhoeffer
epd-bild / akg-images

In Deutschland ist Dietrich Bonhoeffer vor allem als bedeutender Theologe und Widerstandskämpfer bekannt. Seine einzige Pfarrstelle aber hatte Bonhoeffer in England inne – genauer gesagt im Südosten Londons. Dort gibt es auch heute noch die Bonhoeffer Kirche, sie liegt auf der Grenze zwischen den Stadtteilen Forest Hill und Sydenham. Anlässlich seines 70. Todestages am 9. April gedenkt auch die deutsche Gemeinde des Theologen. Der EKD-Auslandspfarrer Dr. Ulrich Lincoln beschreibt, wie Bonhoeffer die Gemeinde bis heute prägt:

Neulich kam ein mir unbekannter Mann an der Kirche vorbei, sah mich dort stehen, kam auf mich zu und sagte: "Haben Sie mitbekommen, dass letzte Woche ein Radiobeitrag zu eurem Mann lief, zu Bonhoeffer? Es war großartig!" (Did you know, last week there was a programme on the radio about your man: about Bonhoeffer. It was amazing!‘) Sprach’s und ging weiter. Die Menschen hier interessieren sich für Bonhoeffer den Pastor, Theologen und Widerstandskämpfer. Bonhoeffer ist präsent in Großbritannien, in Kirchen, Universitäten und Medien. Er gilt als christlicher Märtyrer und bewundertes Vorbild. Und er ist eine zentrale Figur für das deutsch-britische Verhältnis, das merke ich immer wieder.

Viele Deutsche leben hier, von den etwa 10 Millionen Einwohnern Londons sind schätzungsweise mehr als 150.000 Deutsche. Aber man bemerkt sie kaum. Sie sind gut angepasst und in die englische Umgebung eingetaucht. Die meisten haben englische Partner und Kinder. So war das auch schon vor 140 Jahren, als die "German Church Sydenham/Forest Hill" hier im Südosten Londons gegründet wurde. Sie war damals eine von sieben deutschen evangelischen Gemeinden in London. Als im Oktober 1933 der junge Universitätsdozent Bonhoeffer aus Berlin in Forest Hill zum Pfarrer gewählt wurde, hatte in Deutschland bereits der Kirchenkampf begonnen.

Bonhoeffer blieb nur 16 Monate in der britischen Hauptstadt, aber er krempelte vieles um. In der Gemeinde begann er mit Kinder- und Jugendarbeit. Und er schwor die übrigen deutschen Pfarrer in London und anderen Städten auf den Kurs der Bekennenden Kirche ein. Und dies, obwohl viele Pfarrer Anhänger der Nazipartei waren.

Am 9. April dieses Jahres jährt sich Bonhoeffers Todestag zum 70. Mal. Das Gedenken an ihn gerade an diesem Jahrestag aber ist lebendig: Anlässlich seines Todestages laden wir zu einem Gedenkgottesdienst ein: mit Musik, Gebeten und einem Vortrag des britischen Bonhoeffer-Forschers Prof. Keith Clements: "A Pastor to the Very End".

So holt uns in diesem Jahr die Vergangenheit in besonderer Weise wieder ein. Einerseits, weil wir als Deutsche im Ausland auf andere Weise mit der eigenen Geschichte konfrontiert werden als zu Hause: Der Blick auf das Eigene, die deutsche Vergangenheit und Gegenwart, mischt sich mit dem Blick von außen, dem Blick der britischen Gesellschaft. Anderseits prägt Bonhoeffers Londoner Zeit die Gemeinde in Forest Hill bis heute.

Denn das Pastorat war (zusammen mit der St Paul’s-Kirche, die nicht mehr existiert) die einzige reguläre Pfarrstelle, die Dietrich Bonhoeffer jemals innehatte. Die Kirche, in der er damals predigte und Krippenspiele einübte, steht nicht mehr. Deutsche Bomben haben sie zerstört, 1959 wurde das heutige Kirchengebäude der Gemeinde eingeweiht. Es verbindet Kirche, Gemeindesaal und Außengelände. Heute ist es ein Begegnungsort für Deutsche (und Österreicher) in South-East London: Ein deutschsprachiger Kindergarten nutzt die Räume, ebenso deutsche Kindergruppen, eine deutsche Samstagsschule und natürlich die Gemeindegruppen. Aber auch eine englische Kirche, eine Musikgruppe und eine Yoga-Klasse mieten die Gemeinderäume. Das Gebäude ist mittlerweile die wichtigste Einnahmequelle der Gemeinde. Denn die deutschen Gemeinden in Großbritannien müssen sich vollständig selbst finanzieren. Eine Kirchensteuer gibt es dort nicht.

Einmal im Jahr veranstalten wir den "Bonhoeffer Day" anlässlich Bonhoeffers Geburtstag am 4. Februar. Eine ökumenisch besetzte Gemeindegruppe, die Veranstaltungen rund um den deutschen Theologen durchführt, organisiert den Tag mit Unterstützung vieler ehrenamtlicher Helfer. Es gibt Vorträge und Diskussionen zu hören. Auch Musik und Essen dürfen nicht fehlen. Das Thema in diesem Jahr lautete: "Voices in the Silence. Music and Poetry in Cell 92". Es ging um die Bedeutung, die Dichtung, Musik und biblische Psalmen für den gefangenen Bonhoeffer hatten.

Ich zweifelte erst, ob überhaupt jemand kommen würde. Es war ein grauer Wintertag in London. Immerhin pustete die Heizung warme Luft in den Kirchenraum. Umso schöner, dass schätzungsweise 70 Menschen unserer Einladung gefolgt waren. Die Band „The King Cave Project“ eröffnete die Veranstaltung: Eine wunderbare Mischung aus alten Melodien und modernen Jazz-Rhythmen erfüllte den Kirchenraum. Nach einer Weile trat einer der Musiker ans Mikrofon und begann, auf diesem Klangteppich ein Gedicht zu rezitieren:

"Who am I? They often tell me
I stepped from my cell’s confinement
Calmly, cheerfully, firmly.
Like a Squire from his country house..."

So beginnt in englischer Übersetzung Dietrich Bonhoeffers Gedicht "Wer bin ich?"

Seine Worte und Gedichte haben uns noch den ganzen Tag über begleitet, und auch die Musik. So erreichen wir Bonhoeffer-Enthusiasten und -Interessierte aus ganz London und darüber hinaus. In unseren deutschsprachigen Gemeinden dreht sich nicht alles immer nur um Bonhoeffer, doch in diesem Jahr werden wir uns immer wieder an ihn erinnern – und das nicht allein als Deutsche, sondern gemeinsam mit vielen anderen Menschen aus Großbritannien.

Ulrich Lincoln