Im Knast ist jeder Tag ein Karfreitag

01. April 2015

Vergittertes Fenster im Gefängnis
Foto: epd-Bild/Werner Krüper

Frankfurt a.M. (epd). Sie nennen es "Kopf-Fick". Nachts, wenn die Gedanken hämmern. Wenn es kein Entrinnen gibt vor den Bildern: Was sie getan oder nicht getan haben. Was das Gefängnis mit ihnen macht. Was die draußen machen. Frau, Kinder, Familie. Dann versuchen sie sich wegzuschalten. Die einen laufen auf und ab, betäuben sich mit Sport. Andere dröhnen sich zu mit Fernsehen. Lebensgefährlich wird es, wenn einer sich ganz ausklinkt: keine Frischluft, kein Licht, kein sozialer Kontakt bis in die Depression hinein.

Seit sechs Jahren arbeitet Pfarrerin Lotte Jung als Gefängnisseelsorgerin. Ihre Gemeinde sind die Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Frankfurt I, einem Untersuchungsgefängnis mit 564 Haftplätzen. Alles Männer, über die Hälfte von ihnen ist zwischen 24 und 40 Jahre alt. In den Gängen, auf dem Gefängnishof hört man Deutsch, Russisch, Rumänisch, Türkisch und viele Sprachen mehr.

Da zählt jede Minute, jedes Wort

Im Gefängnis ist alles fremdbestimmt. Aufstehen, Aufschließen der Zelle, Arbeiten, Essenszeiten, Rundgang im Hof, Einschließen in die Zelle. Alles ist eingeschränkt. 60 Minuten Telefonzeit pro Monat. 60 Minuten Besuchszeit pro Monat. Da zählt jede Minute, jedes Wort. Ob es um Ehestreit, Schulprobleme der Kinder oder eine Liebeserklärung geht, immer hört jemand mit.

Das macht die Seelsorge im Gefängnis zu einem Privileg. Sie steht unter dem Seelsorgegeheimnis. Das Büro von Pfarrerin Jung ist eine Anders-Welt in der Anders-Welt Gefängnis. Kein kahler Beton, sondern Teppich, Sessel mit Stoffbezügen, an den Wänden Bilder, die Gefangene gemalt haben. Jeder bekommt erst einmal eine Tasse Tee oder Kaffee. Hier ist man nicht Häftling, sondern Gast.

Bei der Seelsorge werden die Gefangenen "nur gepampert", lästern manche JVA-Bedienstete. Doch in den Gesprächen geht es zur Sache. "Das muss ich Ihnen mal sagen" und "Sie haben ja Schweigepflicht". So beginnen viele Häftlinge. Den einen quält: "Alle sagen, ich bin ein Monster." Er fragt: "Wer bin ich denn noch?" Die Pfarrerin antwortet: "Ein Mensch."

"Ich habe ein Ebenbild Gottes zerstört"

Ein Familienvater hat im Alkoholrausch jemanden erschlagen. Die Anklage lautet auf Mord. "Ich habe ein Ebenbild Gottes zerstört", sagt er verzweifelt. Die Seelsorgerin erinnert ihn an Kain, den ersten Mörder in der Bibel. Dem macht Gott das Kainsmal auf die Stirn, ein Schuld- und ein Schutzzeichen. "Das weiß ich alles", winkt der Mann ab. "Aber es hilft nicht." Er schämt sich. Besonders vor seinen Kindern. "Was ist mein Leben noch wert? Besser, ich mache Schluss", sagt er. "Dann zerstören Sie Gottes Ebenbild ein zweites Mal", sagt die Pfarrerin. Sie spricht ihn auf seine Kinder an. Nur wenn er weiter lebt, kann er ihnen später Rede und Antwort stehen.

"Und vergib uns unsere Schuld." Die Bitte aus dem Vaterunser. Wie kann das einer beten und glauben, der schwerste Schuld auf sich geladen hat? Pfarrerin Jung verwendet Worte und Gesten. Sie geht mit dem Häftling in die Gefängniskapelle. Beide stehen sich gegenüber. Die Seelsorgerin nimmt die nach oben offenen Hände des Mannes und hält sie mit ihren Händen. Das wirkt wie eine Entlastung. Sie spricht jahrhundertealte Segensworte. Von Gott, der ihn geschaffen hat. Von Christus, der bis in die Hölle gegangen ist, damit wir wissen: Es gibt keine Dunkelheit, in der Gott nicht ist. Dann legt sie die Hände des Mannes wieder zusammen und lässt sie los. Er hat sein Leben in der Hand. Auf seine Stirn zeichnet sie ein Kreuz. 

In eine Gruppe der Gefängnisseelsorge kommt ein Neuer, dem Kindesmissbrauch vorgeworfen wird. Die anderen sind entsetzt. "Mit dem wollen wir nicht in einer Gruppe sein." Einer mit einer langen Drogenkarriere sagt: "Ich bin kein Christ und werde auch keiner. Aber Kirche ist für mich der Ort, an dem jeder sein darf, egal was er getan hat." Er schaut den Mann direkt an: "Ich werde nicht mit dir sprechen. Aber du sollst hier sein können." 

Judas darf mit am Tisch sitzen

Karfreitag steht bevor. "Lange hatte ich Scheu, einen Gottesdienst an diesem Tag anzubieten", erzählt Jung. Ein Kollege hatte ihr gesagt: "Im Knast ist jeden Tag Karfreitag. Daran muss man die Häftlinge nicht erinnern." Seit einigen Jahren begeht Jung trotzdem Karfreitag in der Gefängniskapelle. Es kommen mehr Gefangene als sonst. Über hundert.

An das Standkreuz in der Gefängniskapelle hängt Jung einen Dornenkranz und ein rotes Tuch. Sie erzählt: Jesus wurde von bewaffneten Soldaten verhaftet, verhört, als Verbrecher rechtskräftig verurteilt. Alle feiern zusammen Abendmahl. Die Pfarrerin beginnt: "Einer, der weiß: Mir steht die Verhaftung bevor, ich komme da nicht mehr raus. Der isst noch mal mit seinen Freunden. Und sein Verräter sitzt mit am Tisch."

Auf den Bildern, die Gefangene vom Abendmahl gemalt haben, fehlt Judas. Verräter sind im Knast das Allerletzte. "Judas war 'ne Ratte", sagen sie. Aber Jesus lässt ihn mit am Tisch sitzen. Es braucht keinen Freispruch, um beim Abendmahl dabei zu sein. "An diesem Tisch sitzen wir alle", sagt die Pfarrerin. 

Martin Vorländer (epd)