Eine Leiter, die zu den Mitmenschen führt

ZDF-Gottesdienst aus dem Fraumünster in Zürich

21. März 2015

Chagall-Fenster Fraumünster Zürich
Foto: epd-Bild/Günter Fischer

Zürich ist die Stadt der Banken. Doch es sind nicht nur Bürogebäude, die die Silhouette des Wirtschaftszentrums der Schweiz prägen, sondern auch die Turmspitzen bedeutender reformierter Kirchen. Da ist das um 1100 errichtete Großmünster mit seinen charakteristischen Zwillingstürmen, welches zum Ausgangspunkt der deutschschweizerischen Reformation wurde; da ist die 1230 erbaute Predigerkirche und St. Peter mit seinem großen Zifferblatt. In der Stadt Huldrych Zwinglis, die zu den prägenden Gestalten der reformierten Kirche zählt, liegt das Fraumünster. Wegen seiner weltberühmten Fenster von Marc Chagall zieht es viele Touristen und Interessierte an.

Klein, aber voller Kraft

Mitten im Finanzdistrikt von Zürich gelegen, ist das Fraumünster die kleinste Zürcher Gemeinde. Dennoch gilt sie als bestbesuchte protestantische Kirche Zürichs. Niklaus Peter, seit zehn Jahren Pfarrer am Zürcher Fraumünster, führt immer wieder Gruppen durch die Kirche. Die Gäste kommen aus allen Teilen der Welt, häufig auch aus Deutschland. Das Fraumünster hat unter Kunst-Kennern einen ausgezeichneten Ruf. "Das liegt an seiner Atmosphäre und seiner bewegten Geschichte", sagt Niklaus Peter, der fünf Jahre lang den theologischen Verlag Zürich leitete, der das Werk von Karl Barth herausgibt.

An diesem Vormittag führt er Interessierte einer evangelischen Akademie durch das Kirchenschiff. Sie sind auf Bildungsreise. Niklaus Peter kennt den irritierten Blick seiner Gäste: Der reformierte Theologe erklärt, dass der Kirchenbau mit seinen romanischen und gotischen Bauelementen einst das Gotteshaus eines Frauenklosters war, das im Jahr 853 von König Ludwig dem Deutschen gestiftet und von Frauen des süddeutschen Hochadels bewohnt wurde. Nach der Reformation kamen Kirche und Kloster in den Besitz der Stadt. Die Gäste spüren sofort: Fraumünster ist ein Kraftort. Niklaus Peter sagt: "Seit 1000 Jahren wird hier gebetet. Ein solcher Kirchenraum ist wie ein Speicher."

Rotes Prophetenfenster, goldgelb leuchtendes Davidsfenster

Die Hauptattraktion aber sind der 1970 entstandene farbenfrohe fünfteilige Fensterzyklus von Marc Chagall im Chor sowie die 1978 fertiggestellte Rosette im südlichen Querschiff. Am 28. März jährt sich der Todestag des jüdisch-weißrussischen Künstlers zum 30. Mal. Touristen und Stadtzürcher wandeln gedankenverloren durch das Kirchenschiff und lassen die intensive Kraft der Farben und die biblischen Botschaften von Chagalls Werken auf sich wirken. "Sie sind berauschend schön und entfalten eine große Tiefe", sagt Niklaus Peter. Er zeigt auf das rote Prophetenfenster, das goldgelb leuchtende Davidsfenster und das blaue Gesetzesfenster. "Auf dem Christusfenster in der Mitte hat sich Chagall sogar selber verewigt", sagt er. Kunsthistoriker rätseln allerdings, weshalb Chagall ausgerechnet auf die Darstellung von Ostern verzichtet hat. Hielt Chagall das Hochfest der Christen für undarstellbar?

Wie kam Chagall nach Zürich? Marc Chagall wurde 1967 von Pfarrer Peter Vogelsanger für die Gestaltung der Fenster angefragt, nachdem ein Gestaltungswettbewerb in der Frauenkirche mit Schweizer Künstlern gescheitert war. Seine 1967 in Zürich ausgestellten Erstfassungen der Scheiben für das Jerusalemer Hadassah-Krankenhaus erregten die Aufmerksamkeit von Vogelsanger. Für Chagall war die Frauenkirche so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Ein halbes Jahr später machte sich der Künstler in Zürich jedenfalls schon ans Werk. Für seine Arbeit erhielt der weltberühmte Maler gerade mal 150.000 Franken, die vom Bauunternehmerehepaar Lou und Heinrich Hatt-Bucher gestiftet wurden.

Während die Besucher die Bilder betrachten, kommen sie bei der Reihe "Musik am frühen Morgen" auch in den Genuss von erlesenen Orgelstücken. "Wir haben hier die drittgrößte Orgel der Schweiz. Sie klingt wunderbar", schwärmt Niklaus Peter, der betont, dass neben der großen Predigttradition im Fraumünster großen Wert auf die musikalische Qualität gelegt werde. Der Zürcher Pfarrer betont, dass Fraumünster keine Touristen-Kirche sei, sondern aus Gemeindegliedern bestehe, "die sich sehr intensiv am Gottesdienstleben beteiligen."

Himmelsleiter als Symbol für Neuanfang

Fast täglich steht Niklaus Peter vor dem Jakobs-Fenster. Es leuchtet in einem intensiven Dunkelblau. Es ist sein Lieblingsfenster. Der Theologe erzählt von den zwei prägenden Erfahrungen des Stammvaters, die hier abgebildet sind: vom Traum der Himmelsleiter und vom Kampf am Fluss Jabbok. Die Leiter steht für den von Gott ermöglichten Neuanfang Jakobs nach seinen Betrugsgeschichten. Am Jabbok aber muss Jakob sich überwinden, um den Segen ringen und dann seinen Bruder Esau um Versöhnung bitten.

Am meisten fasziniert den Theologen das Motiv der Himmelsleiter. Der vierfache Familienvater sagt: "Das ist nicht einfach eine Leiter, auf der man abhebt in den Himmel, sondern eine, die einem neu zu den Mitmenschen führt." Das Faszinierende bei Glasfenstern sei, "dass je nach Lichteinfall gewisse Dinge plötzlich intensiver werden. Das Licht spielt in den Fenstern und lädt uns ein, mitzuspielen. Das Licht illuminiert die Geschichten und macht sie lebendig und hell."

Bunte Fenster in einer reformierten Kirche?

Niklaus Peter muss bei seinen Führungen durch das Fraumünster oft eine Frage beantworten: Weshalb gibt es in einer doch bilderfeindlichen reformierten Kirche so viele bunte Fenster? Seine Antwort lautet: "Die Reformierten nehmen das Zweite Gebot 'Du sollst dir kein Bildnis machen' ernst. Es richtet sich vor allem gegen falsche Gottesbilder und gegen Heiligenbilder." Gegen biblische Bilder hätten die Reformierten eigentlich nichts gehabt. Im Berner Münster etwa seien die Fenster mit biblischen Bildern nicht angetastet worden. "Darum haben wir hier im Fraumünster schon vor den Chagallfenstern das schöne Augusto Giacometti-Fenster im Querschiff – und freuen uns über diese beiden Kunstwerke."

Niklaus Peter fügt weiter an: "Was oft vergessen wird: Reformierte sind nicht aus einem Fundamentalismus heraus gegen Bilder. Es war eine gezielte Kritik an der Verbindung von Macht, Geld und Heiligem." Nach reformierter Tradition und Glaubenspraxis bedeute das: "Sich nicht auf falsche Gottesbilder fixieren und nicht unsere eigenen Wünsche und Vorstellungen in Gott hinein zu projizieren. Sondern versuchen, zu hören, statt zu sehen. Offen zu sein für das Wort, das uns bewegt und transformiert." Reformierte Ästhetik bedeutet für Niklaus Peter Reduktion auf Räume, die öffnen für das Göttliche.

Vera Rüttimann