Die Erinnerungen zulassen

Amcha Israel hilft Holocaust-Überlebenden - und deren Nachkommen

27. Januar 2015

Holocaust-Überlebende Pnina Katsir von Amcha Israel

Jerusalem (epd). Pnina Katsir ist gerade fertig mit ihrem Jiddisch-Unterricht. Ein paar Minuten Pause bleiben ihr noch, bevor es zurück in die Klasse geht, wo als nächstes Chi Gong auf dem Stundenplan steht. In zwei Monaten feiert Frau Katsir ihren 85. Geburtstag. Das hohe Alter ist ihr nicht anzusehen. "Dass ich noch so rege bin, habe ich Amcha zu verdanken", sagt sie lebhaft. "Ich komme jeden Tag hierher."

Amcha, zu deutsch "dein Volk", war einst ein Codewort, mit dem sich Holocaust-Überlebende nach dem Zweiten Krieg in Europa gegenseitig zu erkennen gaben. Heute ist der Name Synonym der landesweit 14 israelischen Anlaufstellen für Überlebende, die hier Hilfe zur Selbsthilfe erfahren, psychologisch unterstützt werden oder einfach nur "Menschen treffen, denen ich nichts erklären muss", wie Katsir sagt.

Zum 70. Mal jährt sich dieses Jahr die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Mit der schrumpfenden Zahl der Überlebenden sollte auch Amcha seine Aufgabe bald erfüllt haben, könnte man denken. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Zahl der in Israel lebenden Holocaustüberlebenden stieg im vergangenen Jahr von 180.000 auf gut 193.000. Denn die Behörden zählen heute auch Juden aus Libyen zu den anerkannten Holocaustüberleben, so wie alle verfolgten Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges unter dem Regime von Nazideutschland lebten.

Immer mehr Menschen zu betreuen

Für Amcha wächst nicht nur die Zahl der zu betreuenden Menschen, die allein in den vergangenen zwei Jahren um 18 Prozent stieg. Zudem kommen immer mehr Menschen, die die Nazi-Zeit als Kind überlebten. "Früher haben sich die Menschen, die während der Verfolgung noch Kinder waren, selbst nicht als Holocaustüberlebende empfunden", erklärt Martin Auerbach, klinischer Direktor von Amcha Israel. Viele, die selbst nicht im KZ waren, "hatten dennoch sehr prägende Erlebnisse". Der Verlust von Kindheit und Jugend war oft begleitet von der Trennung von den Eltern - und das bei Menschen, "die aufgrund ihres Altern noch keine gefestigten Persönlichkeiten hatten".

Pnina Katsir war gerade elf Jahre alt, als die Transporte aus Rumänien in Richtung Ukraine starteten. Fast vier Jahre lebte sie dort bis zum Ende des Krieges mit ihren Geschwistern, Eltern und der Großmutter in einem Ghetto. "Sie ließen uns dort auf natürliche Weise sterben", sagt sie lakonisch. Mangelnde Hygieneverhältnisse sorgten für eine schnelle Ausbreitung von Typhus und anderen Krankheiten, Hunger und Kälte rissen die Menschen in den Tod. "Es gab Winter", erzählt Pnina Katsir, "in denen die Temperaturen bis auf minus 45 Grad absanken. Wir lebten in Häusern ohne Fenster und Türen."

Was die Familie, die neun Mitglieder umfasste, komplett überleben ließ, "war die Zuversicht meiner Eltern, vor allem meiner Mutter, die uns immer sagte, dass eines Tages wieder bessere Zeiten kommen werden". Pnina und ihre Geschwister tauschten, was sie noch hatten, gegen ein paar Kartoffelschalen oder ein Stück Brot. Gegen Ende des Krieges blieb ihnen nur noch ein Teppich, mit dem sich die Familie nachts zudeckte, obschon er kaum für alle breit genug war. "Meine Schwester und ich hatten die Aufgabe, uns an unsere Oma zu kuscheln, um sie zu wärmen."

"Energie verschwendet um zu verdrängen"

65 Jahre lang erzählt Frau Katsir von all dem nichts. Niemandem. "Als ich nach Israel kam, wollte ich neu anfangen und nicht mehr an die Vergangenheit denken." Die Kinder und selbst ihre besten Freunde hätten nichts geahnt. Erst später habe sie gemerkt, "wieviel Energie ich all die Jahre verschwendet habe, um zu verdrängen und das Geheimnis zu hüten". Erst als sie zu Amcha kam, musste sie sich wieder an ihre Erlebnisse während des Krieges erinnern und darüber reden. Anfangs sei ihr das sehr schwer gefallen, doch inzwischen wird sie zu Veranstaltungen eingeladen, um zu berichten. "Einmal habe ich vor 600 Soldaten gesprochen", lacht die alte Dame stolz. Die Erinnerungen zuzulassen und darüber zu reden, habe sie frei werden lassen.

"Manchmal staune ich über mich selbst, wenn ich mich reden höre", fügt Pnina Katsir hinzu. Psychologe Auerbach erklärt, dass für viele "der Schritt in die Rente den Anstoß gibt, über die Vergangenheit nachzudenken". Auch der Verlust eines geliebten Menschen könne die psychische Belastung ansteigen lassen. Im Alter kommen zudem oft existenzielle Fragen auf. Die Überlebenden grübelten darüber, was ohne die Shoa aus ihrem Leben geworden wäre. Viele quälte auch die Frage, wozu sie überlebt haben.

"Hier in Israel geht das oft zusammen mit der Situation des Landes und die immer neuen Kriege", erklärt der gebürtige Wiener Auerbach, der vor 30 Jahren nach Israel kam und selbst Sohn von Holocaustüberlebenden ist. Ganz wichtig sei für diese Menschen, mit ihrem Leid anerkannt zu werden. "Können andere Menschen verstehen, wie sie sich fühlen?" fragt der Mediziner und gibt selbst die Antwort: "Wahrscheinlich nicht, aber es ist schon gut, wenn es jemand versucht."

Susanne Knaul (epd)