Vom Klärwerk auf den Kirchturm

Nach der Arbeit trompetet Turmbläser Maik Lorchheim täglich von Celler Stadtkirche

11. Dezember 2014

Turmbläser des Celler Stadtturms

Maik Lorchheim pustet scharfe Luftstöße durch seine goldglänzende Trompete, so dass es zischt. Er drückt die Ventilknöpfe und steckt sich das Instrument schließlich unter die halboffene Winterjacke, um es mit dem Körper aufzuwärmen. "Im Winter sind die Vorbereitungen immer etwas aufwendiger", erläutert der 27-Jährige im spärlich beleuchteten Kirchturm der evangelischen Celler Stadtkirche. Lorchheim ist der neue Turmbläser von St. Marien. Ihm ist nicht anzumerken, dass er auf dem Weg zur Aussichtsplattform in rund 50 Metern Höhe gerade 220 Treppenstufen auf einer engen Wendeltreppe erklommen hat.

Seit Oktober fährt der gelernte Abwassertechniker jeden Tag nach der Arbeit vom Celler Klärwerk zum Kirchturm, um dort mit seiner Trompete Choräle in alle Himmelsrichtungen zu blasen. Im Mittelalter waren Turmbläser dafür verantwortlich, die Stadt, die sie von oben bewachten, bei drohender Gefahr mit Fanfaren zu warnen. Weil der Turm der Stadtkirche erst 1913 gebaut wurde, übten die Turmbläser ihre Tätigkeit in Celle früher auf den Schlosstürmen aus. Heute gibt es deutschlandweit noch zwölf Türmer, die die Tradition aufrechterhalten. Lorchheim spielt jeden Tag um 16.45 Uhr und am Wochenende zusätzlich morgens um 9.45 Uhr.

Das Amt hat er von seinem Vater übernommen, der es im März nach fast 30 Jahren aus gesundheitlichen Gründen niederlegen musste. "Ich freue mich, dass diese Tradition in der Familie bleibt", sagt Lorchheim, während er einen prüfenden Blick auf sein Smartphone wirft, das sorgfältig aufgereiht neben Gesangbuch und Instrumententasche auf dem Tisch liegt.

Mit drei Jahren nahm ihn sein Vater erstmals mit auf den Kirchturm. "Als Kind fand ich es toll, meinem Vater zuzuhören. Trompete spielen hat mich fasziniert", erzählt Lorchheim. Als er sieben Jahre alt war, begann sein Vater, ihm das Spielen beizubringen: "Ton für Ton - bis ich die erste Tonleiter konnte". Etwas später trat er in den Posaunenchor ein, in dem er bis heute spielt.

Der wichtigste Hinweis seines Vaters, den er seit seinem 17. Lebensjahr als Turmbläser vertrat, war, das Instrument im Winter mit nach Hause zu nehmen: "Sonst frieren die Ventile ein, und ich kann nicht spielen." Aber noch sei es dafür nicht kalt genug, lächelt Lorchheim, obwohl der Atem vor seinem Gesicht in weißen Wölkchen aufsteigt.

"Noch drei Minuten", sagt der 27-Jährige und öffnet die Tür zum schmalen Balkon. Unter ihm erstreckt sich die beleuchtete Celler Altstadt. "Bei klarem Wetter sind die Choräle fast fünf Kilometer weit zu hören. Wenn es regnet, sind sie leider schon unten auf dem Marktplatz kaum zu verstehen", erzählt Lorchheim. Und ergänzt zufrieden: "Die Leute freuen sich, dass nach sechs Monaten endlich wieder jemand spielt."

Nachdem die Glocken dreimal zur Dreiviertelstunde schlagen, klemmt Lorchheim das Gesangbuch in seine linke Hand und hebt die Trompete zum Mund. "Jesu, geh voran" hallt von den Dächern der Celler Altstadt wider. Auf dem Marktplatz bleiben Passanten stehen, recken die Köpfe, gehen weiter.

Vor allem Touristen hörten seinem Spiel gerne zu, sagt Lorchheim: "Die Resonanz ist eigentlich immer positiv." Am liebsten spielt er im Sommer, wenn er in T-Shirt auf dem Turm stehen und den Ausblick genießen kann. Aber auch auf die Adventszeit freut er sich, weil er wegen des Weihnachtsmarktes mit mehr Zuhörern rechnet.

Nach weniger als einer Minute ist der Sechszeiler gespielt, und es herrscht Stille. "An manchen Tagen bekomme ich Applaus, an anderen Tagen gehen die Leute unten einfach weiter", kommentiert Lorchheim und wechselt von der Ost- auf die Nordseite des Turms, wo er zur zweiten Strophe ansetzt. Bevor er den Balkon nach seinen Auftritten gen Süden und Westen mit vor Anstrengung rotem Kopf wieder verlässt, winkt er seinen Zuschauern noch lächelnd von oben zu.

Nach seinen Musikeinlagen spielt er im Turm oft noch eine halbe Stunde für sich: "So bleibe ich in Übung". Dann bereitet er sich auch auf den nächsten Tag vor. Welches Lied er spielt, darf er selbst entscheiden - es muss nur dem Kirchenjahr entsprechen. Die passenden Choräle sucht er sich in Datenbanken im Internet heraus. (epd)