Kirche jenseits der Grenze

Der Bau der Mauer trennte auch zahlreiche Gemeinden von ihren Landeskirchen

06. November 2014

Stacheldrahtzaun an der ehemaligen innerdeutschen Grenze

Wie ein Abschied fühlte es sich für den braunschweigischen Landesbischof Gerhard Müller an, als er 1985 in die DDR reiste. Zum letzten Mal vor der Wende besuchte er die Pfarrer in Blankenburg, die rund 30 Kilometer jenseits der innerdeutschen Grenze ihren Dienst taten. "Solange es ging, haben wir das Gebiet noch zu Braunschweig zugehörig betrachtet", erinnert sich der heute 85-jährige Theologe. Als die Kirchengemeinden 1985 in die Kirchenprovinz Sachsen wechselten, ahnte keiner, dass die jahrzehntelange Trennung schon bald vorüber sein würde.

Der damalige Leiter des Kirchenamts in Blankenburg, Ulrich Haertel, erinnert sich noch gut an diese Zeit. Sein ganzes Leben habe er in Blankenburg verbracht und währenddessen dreimal die Landeskirche gewechselt, erzählt er. Seit der Reformation im 16. Jahrhundert gehörte die Propstei Blankenburg kirchenpolitisch zu Braunschweig. Von 1973 an wurde die Kirchenregion durch die sächsische Kirche mit Sitz in Dresden verwaltet, aber nicht eingegliedert. Sie blieb dank finanzieller Unterstützung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig selbstständig.

Weil die Verwaltung aus dem 250 Kilometer entfernten Dresden immer schwieriger wird, entscheiden sich die Gemeinden Mitte der 1980er Jahre schließlich, der Kirchenprovinz Sachsen mit Sitz in Magdeburg beizutreten. Niemand habe da noch mit einer Rückkehr nach Braunschweig gerechnet. Während der vielen Jahre der Trennung sei der Kontakt zum Westen nicht abgebrochen, sagt der 72-jährige Haertel. Regelmäßig fanden gemeinsame Treffen in Ost-Berlin statt. "Ich bin überzeugt, dass wir dabei abgehört wurden."

Für Regionaldiakon Johannes Spiegel, der 1983 in Blankenburg seine erste Stelle antrat, war die Zugehörigkeit zur sächsischen Landeskirche erst mal Normalität. "Ich bin davon ausgegangen, dass ich den Westen erst als Rentner erlebe", sagt der heute 54-Jährige. Schon während seiner Ausbildung lernte er das kirchliche Leben unter Beobachtung kennen. Stolz trug er die Aufnäher der kirchlichen Friedensbewegung "Schwerter zu Pflugscharen" am Hemd und initiierte in Blankenburg die Ökumenische Friedensdekade. "Ich hatte immer die Telefonnummer meines Vorgesetzten im Kopf", sagt er. Im Notfall hätte er ihn aus dem Gefängnis angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er nicht zur Arbeit kommt.

Im Herbst 1989 wurde es auch in den Kirchen in Blankenburg voller und politischer. Initiativen wie das "Neue Forum" fanden unter dem Dach der Kirchen Raum für Diskussionen. Am 9. November 1989 blieb es jedoch weitgehend ruhig auf den Straßen. "Wir konnten es alle erst gar nicht glauben", sagt Jugenddiakon Spiegel. Als er am 11. November 1989, zwei Tage nach dem Mauerfall, die jährliche Friedensdekade mit einem Konzert eröffnen wollte, war die Band schon nicht mehr da.

Drei Tage nach der Grenzöffnung reiste auch der braunschweigische Landesbischof Gerhard Müller zum Grenzübergang nach Stapelburg, um die Gemeinden im Osten zu besuchen. "Die letzte Strecke musste ich mit dem Rad fahren, weil kein Durchkommen mehr war", erinnert er sich. Doch die Grenzpolizei ließ ihn nicht ohne Visum von West nach Ost passieren.

"Das war eine emotionale Zeit", sagt der Altbischof. Zwei Jahre später stimmten 26 von 30 Gemeinden für eine Rückkehr zur braunschweigischen Landeskirche. Viele ältere Gemeindemitglieder hatten beim Festakt im Januar 1992 Tränen in den Augen.

In den darauffolgenden Jahren wurden aber auch Unterschiede deutlich: "Die Entfremdung von der Kirche war sehr viel stärker, als wir gedacht hatten", sagt Müller. In Blankenburg sind heute nur etwa zehn Prozent der rund 21.000 Einwohner evangelisch. Viele Einwohner sind bereits vor der Jahrtausendwende in den Westen gezogen, sagt Diakon Spiegel. "Das hat uns schon sehr gebeutelt." (epd)